Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin Ringen um Stimmen: Von der Leyen mit Forderungen konfrontiert
Brüssel · Wie bekommt die Kandidatin für das Amt der EU-Kommissionschefin bei der Wahl am Dienstag ihre Stimmen zusammen? Die Parteien fordern nun, was sie schon immer durchsetzen wollten. Die Mehrheitsverhältnisse sind extrem knapp.
Vor der Wahl Ursula von der Leyens zur Präsidentin der EU-Kommission verlangen Sozialdemokraten und Liberale im Europaparlament große Zugeständnisse. Die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe Garcia Pérez schickte der CDU-Politikerin einen sechsseitigen Forderungskatalog, der unter anderem in der Sozial- und Klimapolitik über Zusagen von der Leyens hinausgeht. Ein ähnlicher Brief kam von den Liberalen. Von den Antworten hänge ab, ob man die Kandidatin wähle, sagten Sprecher beider Gruppen am Freitag.
Von der Leyen ist bei sehr knappen Mehrheitsverhältnissen auf Stimmen aus beiden Gruppen angewiesen, will sie am Dienstag das mächtige EU-Amt erobern. Denn Grüne und Linke haben bereits ein Nein angekündigt. Die 16 SPD-Europaabgeordneten haben ihr ebenfalls eine Absage erteilt, doch die Mehrheit der 153 Sozialdemokraten hält sich ihr Votum offen. Bei den 108 Liberalen ist es ähnlich.
Garcia Pérez schrieb, nach dem Auftritt von der Leyens in der sozialdemokratischen Fraktion diese Woche seien noch Fragen offen, so dass man noch keine Entscheidung über ihre Wahl treffen könne. Dann folgen detaillierte Forderungen, darunter ein Plan für zusätzliche Investitionen in Europa im Wert von einer Billion Euro bis 2024, Flexibilität bei der Auslegung der EU-Sparregeln, die seit Jahren umstrittene EU-Einlagensicherung, Mindeststeuersätze und ein neuer Anlauf für eine Agrarreform.
Beim Klimaschutz soll die künftige Kommission bis 2030 eine Senkung der Treibhausgase um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zusagen. Derzeit liegt das EU-Ziel bei 40 Prozent. Von der Leyen hatte von möglichen 50 Prozent gesprochen - was aber in ihrer eigenen Partei bereits auf Vorbehalte trifft.
Die Liberale Fraktion Renew Europe hatte am Donnerstag in ihrem Brief drei wesentliche Forderungen gestellt: ein verbindlicher Mechanismus zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit samt Strafen; genauere Zusagen für eine Konferenz zur demokratischen Reform der EU; und eine Rolle der Liberalen Margrethe Vestager, die genau der des Ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, entspricht.
Eine echte Zusage für Unterstützung hat von der Leyen bisher nur von der eigenen Parteienfamilie Europäische Volkspartei mit 182 Sitzen. Nötig für ihre Wahl sind nach jetzigem Stand 374 Stimmen. Stimmen von der rechtsnationalen EKR mit 62 Mandaten und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung scheinen möglich. In jedem Fall wird ein sehr knappes Ergebnis erwartet.
EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger sagte im Deutschlandfunk, er gehe davon aus, dass von der Leyen eine „gute Chance“ habe. Eine Ablehnung wäre falsch - wenn auch kein politischer GAU, fügte er hinzu. Viele Abgeordnete seien verärgert, dass sich mit der Nominierung von der Leyens durch die EU-Staats- und Regierungschefs das Parlamentsvorhaben zerschlagen habe, die Kommissionsspitze mit einem der Spitzenkandidaten bei der Europawahl zu besetzen.
Das SPD-Papier mit zahlreichen aktuellen und früheren Anschuldigungen gegen von der Leyen, das der deutsche Gruppenchef Jens Geier in der Fraktion der europäischen Sozialdemokraten verteilen ließ, nannte Oettinger „zumindest unkollegial“.
Die neue sozialdemokratische Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley bekräftigte in der „Passauer Neuen Presse“: „Stand jetzt können die SPD-Abgeordneten der Bewerberin nicht zustimmen.“ Sie habe auch inhaltlich nicht überzeugt.