Nach Verfassungsbeschwerde Triage-Regelung: Bundesverfassungsgericht zwingt Gesetzgeber zum Handeln

Update | Karlsruhe · In der Corona-Pandemie droht die Situation, dass Intensivstationen nicht mehr alle Patienten aufnehmen können - und eine Auswahl treffen müssen. Nun muss der Gesetzgeber handeln.

Wie wird im Falle einer Triage entschieden?

Foto: dpa/Fabian Strauch

Das Bundesverfassungsgericht hat die Politik verpflichtet, „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage zu treffen. Auf welche Weise der Bundestag regelt, dass diese Personen nicht benachteiligt werden, bleibe dem Gesetzgeber überlassen. Ärzte und Ärztinnen bräuchten rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollen und wen nicht. (Az. 1 BvR 1541/20)

Patientenschützer, der Sozialverband VdK und Politiker begrüßten den am Dienstag veröffentlichten Beschluss des höchsten deutschen Gerichts. „Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken“, sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer wegdelegiert - etwa an Fachverbände. Die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Abgeordneten sicher keine einfachen. Eine der Klägerinnen, Nancy Poser, zeigte sich „erleichtert“. „Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben - egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch“, sagte die 42-Jährige aus Trier.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte, aus dem Grundgesetz ergebe sich eine Pflicht für den Gesetzgeber, das höchstrangige Rechtsgut Leben zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine Vorkehrungen getroffen habe. Mit seiner Entscheidung vom 16. Dezember gab das Gericht neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Recht, die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Der Erste Senat verwies dabei auch auf die Behindertenrechtskonvention.

Bei der konkreten Ausgestaltung habe der Gesetzgeber Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Er könne selbst Vorgaben zu Kriterien von Verteilungsentscheidungen machen. Als weitere Beispiele nannte das Gericht Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen, Regelungen zur Unterstützung vor Ort und spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege, insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation zu vermeiden. „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind“, heißt es in dem Beschluss.

Dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden könnte, glauben die Verfassungsrichter auf Grundlage des Verfahrens nicht. Sie hatten zahlreiche Experten wie Behindertenverbände, den Ethikrat, die Bundesärztekammer und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zurate gezogen.

Die Divi hat mit anderen Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ zur Triage erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien aber mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.

Ähnlich argumentierte das Verfassungsgericht und sieht sogar die Gefahr, „dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können“. Diese seien rechtlich auch nicht verbindlich und „kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht“. Es müsse sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte die Entscheidung am Dienstag auf Twitter: „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heißt es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.“

VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte: „Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage.“ Patientenschützer Brysch sagte, die nun nötige Diskussion brauche etwas Zeit. „Das ist ein äußerst komplexes Thema.“ Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse. „Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist.“ Wichtig sei nun, dass die Fraktionen im Bundestag einen Fahrplan vorlegen. Auch die Bundesregierung sei gefordert, Vorschläge zu unterbreiten.

SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: „Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung & Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann.“ FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki kritisierte in der „Rheinischen Post“ (Mittwoch) die Vorgängerregierung: „Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel.“

(dpa)