Wie verlässlich ist die Tagesschau?

Nach dem Mord an der Freiburger Studentin Maria L. berichtet ARD-aktuell im Fall Kandel erneut erst unter Druck über ein Tötungsdelikt durch afghanischen Flüchtling.

Foto: WZ

Hamburg/Kandel. Als am 27. Dezember ein angeblich 15-jähriger Afghane in einem Drogeriemarkt im rheinland-pfälzischem Kandel eine tödliche Messerattacke auf eine 15-jährige Deutsche verübte, teilten das Polizeipräsidium Rheinpfalz und die Staatsanwaltschaft Landau wörtlich mit: „Am Mittwochnachmittag, gegen 15.20 Uhr, kam es in einem Drogeriemarkt in Kandel zu einem Streit zwischen einem 15-jährigen Afghanen und einer 15-jährigen Deutschen. Im weiteren Verlauf zog der 15-Jährige ein Messer und stach auf diese ein, welche im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag. Der Täter konnte durch Passanten überwältigt und durch die Polizei festgenommen werden.“

Innerhalb der ARD war für diese Nachricht der Südwestrundfunk (SWR) mit Redaktionssitz in Mainz zuständig und tat sich offenbar mit der Meldung schwer. Der öffentlich-rechtliche Sender verschwieg zunächst die afghanische Nationalität des Täters und verteidigte sich bei Twitter gegen massive Kritik so: „Wir verschweigen nicht die Nationalität, wir nennen sie nur nicht, da sie bisher noch nicht relevant für die Tat ist. Bisher sind kaum Einzelheiten zur Tat bekannt, auch dass der Täter ein Flüchtling ist, steht noch nicht fest. Wir berichten weiter.“

Dass der SWR-Redaktion nur ein Jahr nach der Ermordung der Freiburger Studentin Maria L. durch den angeblich minderjährigen (und in Wahrheit mindestens 22 Jahre alten) afghanischen Flüchtling Hussein K. und den anschließenden Diskussionen die gesellschaftliche Brisanz und politische Dimension nicht aufgegangen sein soll, ist eigentlich kaum vorstellbar. Und doch setzte sich diese befremdliche Sicht der Dinge von Mainz bis in die Redaktion von ARD-aktuell in Hamburg fort, wo die „Tagesschau“ produziert wird — die, wie bereits im Fall Maria L., nicht berichtete. Darauf hagelte es vor allem in den sozialen Medien massive Kritik an der Entscheidung der ARD. Keineswegs nur aus dem AfD-Lager wurde der ARD vorgeworfen, Nachrichten zu unterdrücken. Massenhaft sah sich die ARD dem Verdacht ausgesetzt, bloß deshalb nicht zu berichten, weil es sich bei dem verhafteten Tatverdächtigen um einen afghanischen Flüchtling handele.

Am 28. Dezember, als sich die ganze Dimension des Falls Kandel bereits abzeichnete, leuchtete auch dem SWR ein, dass die afghanische Nationalität im Zusammenhang mit der Tat wohl eine erhebliche Rolle spielen werde. Ohne es kenntlich zu machen, passte der SWR auf seiner Internetseite die Berichterstattung an.

Marcus Bornheim, Zweiter Chefredakteur von ARD-Aktuell

In Hamburg blieb die Tagesschau-Redaktion jedoch bei ihrer Haltung und verteidigte diese noch am Donnerstagnachmittag so: „Seit einigen Stunden wird uns in den Sozialen Netzwerken vorgeworfen, die tagesschau würde darüber nicht berichten. Wir würden bewusst etwas verschweigen“, so Marcus Bornheim, Zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell.

Als Grund der „Zögerlichkeit“ nannte Bornheim: „Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich um eine Beziehungstat. So schrecklich sie gewesen ist, vor allem für die Eltern, Angehörigen und Bekannten — aber Tagesschau und tagesschau.de berichten in der Regel nicht über Beziehungstaten. Zumal es hier um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen.“

Noch sei die Polizei am Anfang ihrer Ermittlungen und deshalb halte man sich sehr zurück. Das Motiv sei derzeit unklar. Inzwischen gebe es neue Details. Und: Es stellten sich weitere Fragen. „Wir werden diesen Fall weiter beobachten“, so Bornheim: „Aber wir werden das mit dem journalistischen Know-How machen, das geboten ist.“ Knapp vier Stunden später kippte Bornheim um und ergänzte seine Erklärung: „Nachtrag: Die Tagesschau um 20 Uhr wird eine kurze Meldung zu der Tat in Kandel machen. (Stand: 19.52 Uhr)

Spätestens mit Bornheims Berichterstattungs-Verweigerung, die er selbst nicht einmal einen Tag aufrecht erhalten konnte, brach die Tagesschau-Redaktion eine Diskussion über ihre eigene Glaubwürdigkeit vom Zaun. Als im Fall Maria L. am 3. Dezember 2016 auf einer Pressekonferenz der Polizei die Verhaftung des (angeblich) minderjährigen afghanischen Flüchtlings Hussein K. bekannt gegeben wurde, berichteten nahezu alle deutschen und auch internationale Medien bis hin zur „New York Times“ — nur die Tagesschau nicht.

Damals erklärte Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, der Fall habe eine lediglich eine „regionale Bedeutung“ und entspreche damit nicht den Relevanzkriterien der Tagesschau. Fast alle Medien und auch der Deutsche Journalisten-Verband kritisierten Gniffke damals scharf. Der „Stern“ sprach von einer hanebüchenen Erklärung für eigene Ignoranz, die „FAZ“ kommentierte: „Über den Kampfslogan Lückenpresse braucht sich jedenfalls niemand mehr zu wundern.“ Gniffke blieb selbst noch in einem Chat mit Zuschauern bei seiner Rechtfertigung und erklärte: „Wir müssen genau gucken: Steckt dahinter eine nationale, gesellschaftliche Relevanz? Wenn sich rausstellen würde, dass an Gewaltdelikten Flüchtlinge überproportionale beteiligt wären, dann können Sie sich darauf verlassen: Das würden wir berichten. Da hätten wir überhaupt keine Hemmungen.“

Doch genau das trifft offenbar nicht zu. Im Nachgang des Falls Maria L. trug die „Zeit“ im April 2017 die einschlägigen Zahlenwerke der 16 Bundesländer für 2016 zusammen, um die Frage beantworten zu können: „Wie kriminell sind Flüchtlinge?“ Antwort: erheblich. „14 von 16 Bundesländer haben der ,Zeit’ übereinstimmend gemeldet: Ohne die Straftaten von tatverdächtigen Zuwanderern wäre die Gewaltkriminalität 2016 entweder weiter gesunken oder zumindest nicht gestiegen.“ Und: „Allgemein gilt: Zuwanderer waren 2016, selbst wenn man sämtliche ausländerrechtlichen Straftaten wie etwa den illegalen Aufenthalt herausrechnet, überdurchschnittlich an der gesamten registrierten Kriminalität beteiligt. Obwohl sie in der Regel nur zwischen 0,5 und 2,5 Prozent der Wohnbevölkerung in einem Bundesland ausmachen, stellten sie bis zu 10 Prozent aller tatverdächtigen Straftäter.“

Peter Huth, Chefredakteur „Welt am Sonntag“

Die Berichterstattungs-Verweigerung der Tagesschau in Sachen Kandel und Diskussionen, ob man die Herkunft des Täters bei der Berichterstattung nennen müsse, kommentierte Peter Huth, Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, so: „Es ist nicht nur richtig, zu melden, dass der angeblich minderjährige Festgenommene ein afghanischer Flüchtling ist, sondern es ist dringend notwendig. Wer diesen Mordfall auf eine Beziehungstat unter Teenagern reduziert, leugnet die Umstände des Mordes. Es macht faktisch einen Unterschied, ob der Täter in einem Gewaltverbrechen gegen eine Frau, die sich ihm entzog, aus einer aufgeklärt-liberalen Gesellschaft kommt oder aus einer aggressiv-patriarchalen.“

Auf dem Autoren-Blog „Salonkolumnisten“ bezeichnete Sebastian Geisler („Berliner Morgenpost“) die Kandel-Begründung Bornheims als absurd: „Mehr noch: Sie ist gefährlich — weil sie der Landschaft seriöser Medien insgesamt schadet.“

Damit kommt Geisler auf einen Punkt, über den die Chefs von ARD-aktuell nicht sprechen wollen: Die Tagesschau will sich nicht auf Regeln festlegen oder festlegen lassen, was genau eine Tagesschau-Nachricht ausmacht — während sie gleichzeitig behauptet, hohe Standards und ethische Richtlinien zu befolgen. Niemand kann sie nachlesen, niemand kann sie einklagen. Wer Kai Gniffke dazu befragt, bekommt eine vorgefertigte Antwort, in der von Relevanz („die zentrale Kategorie“) die Rede ist, von Nähe, Bildhaftigkeit und Gesprächswert, von hohen handwerklichen, ethischen Standards in Bezug auf Verständlichkeit, Fairness und Respekt, einem internen Qualitätsmanagement und „unseren journalistischen Qualitätsstandards“. Das alles gipfelt in einem entwaffnenden Bekenntnis zur Beliebigkeit: „Ein verbindliches Regelwerk, was eine Tagesschau-Nachricht ausmacht, gibt es aus den oben genannten Gründen nicht.“