Erziehung Wiener Ärztin warnt mit ihrem Buch vor "Tyrannenkindern"
Eine Wiener Ärztin klärt in ihrem Buch über falsche Leitbilder und Ängste in der Erziehung auf.
Wien. 35 Jahre habe sie ihren Job ausgeübt. Am Anfang, so erzählt die Lehrerin, seien drei bis fünf Kinder mit Konzentrations- oder sozialen Kompetenzschwächen in einer Klasse gewesen. Heute sei das Zahlenverhältnis umgekehrt. Die Direktorin wiederum schätzt, dass zirka 20 Prozent ihrer Schulabgänger keinen Arbeitsplatz finden werden, „nicht weil sie zu dumm sind, sondern weil ihnen die Sekundärtugenden fehlen“. Zwei Erfahrungen, die Dr. Martina Leibovici-Mühlberger aus Gesprächen mit Pädagogen anführt. Die österreichische Ärztin und Psychotherapeutin weiß um die Zunahme verhaltensauffälliger Kinder auch aus der eigenen Praxis: „Solche Kinder waren Einzelfälle, jetzt sind sie Normalität.“ Mit ihrem Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ trifft sie einen Nerv — viele Eltern melden sich bei ihr und suchen Rat.
Die vierfache Mutter ist sich sicher, dass Kinder mit diesem „tyrannischen Verhalten“ ein Alarmzeichen setzen: „Sie schreien, weil es ihnen nicht gut geht, weil wir nicht achtsam mit ihnen umgehen.“ Die Gesellschaft, so Leibovici-Mühlberger, hat sich einem ökonomisierten Leitbild verschrieben: „Aus der Marktwirtschaft ist die Marktgesellschaft geworden. Wir leben nicht mehr nach moralischen, sondern nach ökonomischen Maßstäben.“ Mit Früh-Erwachsenen und Früh-Konsumenten.
Es gehe darum, das Beste aus einem jeden herauszuholen, grenzenlose Individualität und Freiheit zu leben, der narzistisch motivierte Kinderwunsch inklusive. „Eltern wünschen ihrem Kind das Beste und haben Angst, Grenzen zu setzen, weil sie fürchten, sonst das Kind zu beschädigen.“ Das Kind solle alles haben und erreichen, wofür es immer früher gefördert werden müsse. Auf der Strecke bleiben soziale Fähigkeiten, Ausdauer und Frustrationstoleranz: „Das Kind ist der Prinz, wächst mit einem egozentrischen Weltbild auf.“ Wenn der Schulabgänger aber kein Einstein oder Paganini geworden ist, schlägt er „hart in der Leistungsgesellschaft auf“.
Der 25-jährige Max beispielsweise igle sich ein, erwarte von den Eltern, dass diese weiter für ihn aufkommen. Wenn sich diese weigern und zum Arbeiten auffordern, fühle er sich im Stich gelassen und wende sich ab. Mit weitreichenden Folgen - nicht nur für das eigene Leben und das der Eltern. Die Generationen stünden nicht mehr füreinander ein, die immer schwieriger werdenden Probleme einer globalisierten Gesellschaft würden nicht mehr gelöst. Und das nur, so Leibovici-Mühlberger, weil Max ein Tyrannenkind und seine Eltern besonders um ihn bemüht waren.
Warum läuft soviel falsch? Potenzielle Eltern, so die Psychotherapeutin, überlegen heute lange, sich auf das Abenteuer Kind einzulassen. Schließlich müsse der Nachwuchs in den Lebensentwurf passen. Der Erziehungsauftrag werde einfach nicht angenommen, Kinder als wirtschaftliches Risiko empfunden.
Außerdem bestehe die Sorge, der Nachwuchs könne im Zeitalter von Smartphone und Spielekonsole dem elterlichen Einfluss entgleiten. Wenn in der Grundschule schon Tötungsvideos auf dem Handy herumgeschickt werden, drohe doppelte Gefahr: durch den Inhalt des Videos als auch durch den Konsumdruck. Denn ein Kind, das kein Smartphone habe, drohe ausgeschlossen, gemobbt zu werden. Folge: Die Eltern geben nach. Ein Problem, das alle Schichten, Alleinerzieher wie Familien betreffe, besonders bemühte Eltern wie diejenigen, die den Nachwuchs schon früh sich selbst überließen, um sich dem eigenen Leben zu widmen.
Was aber tun? Leibovici-Mühlberger selbst bastelt an einem Projekt, das junge Menschen wie Max in Wohngemeinschaften unter psychotherapeutischer Betreuung Verantwortung lernen lässt. Und sie hat ihr Buch geschrieben, das wachrütteln soll, damit endlich eine kontinuierliche, liebevolle Umerziehung begonnen werde, die den Selbstwert stabilisiere. Die Gesellschaft müsse die Verantwortung für die Kinder übernehmen, Eltern wirklich erziehen, ihre Kinder annehmen und ihnen Grenzen setzen. Die Politiker müssen dafür sorgen, dass der Nachwuchs moderne Medien nutzen lernt und die Schulen zum echten, für die Schüler verträglichen Lebensraum entwickelt werden.
Die Buchautorin appelliert: „Wir müssen unsere Kinder fördern, aber nicht damit sie in die Pole Position kommen, sondern in die Gesellschaft integriert werden als kollaborative, reflexive Menschen.“ Nicht der einzelne Wissenschaftler, sondern das Wissenschaftscluster könne die Aufgaben der Zukunft meistern. „Wir brauchen Menschen, die reif und erwachsen und auf die Menschheit ausgerichtet sind.“