Ausbildung statt Hörsaal — Chancen für Studienabbrecher

Aachen (dpa/tmn) — Wer sein Studium abbricht, sucht nach neuen Perspektiven. Die Wirtschaft hingegen braucht in Zeiten des Fachkräftemangels dringend qualifizierte Mitarbeiter. Auf Studienabbrecher zugeschnittene Ausbildungen bieten gute Chancen für beide Seiten.

26 Jahre alt, neun Semester studiert und dann kein Abschluss - das ist alles andere als eine angenehme Erfahrung. Oliver Rick hat sie vor zwei Jahren gemacht, als er in seinem Studium der Geschichte und Informatik auf Lehramt an der RWTH Aachen eine Prüfung nicht bestand. Die Folge: Im Fach Informatik war für ihn Endstation. Er hätte sein Studium mit einem anderen Fach fortsetzen können — für ihn war das jedoch keine Perspektive, er wollte bei der Informatik bleiben. „Ich wusste nicht, wie es weitergehen soll“, erinnert sich Rick — ein Gefühl, das viele Studenten ohne Abschluss kennen. Auf sie sind nun einige neue, spezielle Ausbildungs-Projekte zugeschnitten.

Laut dem jüngsten Berufsbildungsbericht bricht rund jeder Vierte (28 Prozent) sein Bachelor-Studium ab. An den Maschinenbau-Fakultäten schmeißt zum Teil jeder Zweite vor dem Abschluss das Handtuch. Nach einer Befragung von Studienabbrechern des HIS-Instituts für Hochschulforschung gibt es dafür vor allem drei Gründe. Man fühlt sich den Anforderungen des Studiums nicht gewachsen. Andere haben Finanzierungsprobleme. Manch einem mangelt es an der Motivation.

Oliver Rick blies nicht lange Trübsal, sondern suchte eine Alternative. Er hörte von dem 2009 ins Leben gerufenen Projekt „Switch“ der Wirtschaftsförderung Aachen: Hier werden Unternehmen, die dringend Fachkräfte suchen, und Studienabbrecher zusammengebracht. Voraussetzung: Studenten müssen mindestens zwei Semester eingeschrieben gewesen sein und mindestens 20 Credit Points vorweisen können.

Dann können sie ihre Lebensläufe und Zeugnisse einsenden, das „Switch“-Team reicht ein Kurzprofil der Bewerber an die Unternehmen weiter. Die Ausbildung in den Berufen Fachinformatiker Anwendungsentwicklung sowie Systemintegration und Industriekaufmann dauert 18 Monate statt regulärer dreieinhalb Jahre. Mechatroniker brauchen 24 Monate. An der Berufsschule sind extra Klassen für die Lehrlinge eingerichtet, und der Lehrplan ist auf die Studienabbrecher zugeschnitten. „Die Azubis bringen ein fundiertes Wissen aus dem Studium mit“, begründet Thomas Hissel von der Wirtschaftsförderung Aachen die verkürzte Ausbildung.

Oliver Rick machte eine Lehre zum Fachinformatiker Anwendungsentwicklung: „Die Ausbildung ist viel praxisorientierter als das Studium.“ Das Lehrgehalt ist tariflich geregelt und ebenso hoch wie bei regulären Auszubildenden.

Das Projekt macht Schule. So startete die IHK Berlin „Your turn“, bei dem Studienabbrecher in den Berufen Fachinformatiker für Systemintegration sowie Immobilienkaufmann ausgebildet werden. Auch für das Handwerk sind die Studienabbrecher interessant, wie neue Projekte wie „Meister statt Master“ des Berufsbildungszentrums Hellweg-Lippe in Soest (NRW) oder „Karriereprogramm Handwerk — Studienanschluss statt Studienabbruch“ der Handwerkskammer Unterfranken zeigen.

„Die Wirtschaft hat die Studienabbrecher in Zeiten des Fachkräftemangels für sich entdeckt“, stellt Sören Funk vom Job- und Informationsportal www.studienabbrecher.com fest. Möglich ist auch der Direkteinstieg. Oliver Rick warnt jedoch: „Man erreicht ohne Abschluss nicht das Gehalt eines regulären Arbeitnehmers.“

Der Vorteil einer Ausbildung: „Die Kombination aus Fachwissen aus der Uni und der Praxis der Ausbildung ist für die Unternehmen viel wert“, so Funk. Thomas Hissel erhält diese Rückmeldung von den an „Switch“ beteiligten Firmen: Die Studienabbrecher seien zielstrebigere und motiviertere Azubis. „Sie hatten einen Fehlschuss und sehen in der Lehre ihre Chance.“ Außerdem bringen sie mit Mitte 20 oder älter — der älteste Absolvent des ersten „Switch“-Jahrgangs war 38 - mehr Lebenserfahrung mit als ein Lehrling mit 18 Jahren.

Entsprechend müssen sich Studienabbrecher bei Bewerbungen nicht klein machen. „Man kann im Bewerbungsschreiben offen sein und erklären, dass man das Studium abgebrochen hat und warum. Dann sollte man aufführen, was das Unternehmen davon hat“, rät Funk. Hissel fügt hinzu: „Personalchefs wünschen sich, dass der Bewerber ehrlich mit dem Abbruch umgeht.“

Allerdings sind nicht alle Branchen so offen. Geisteswissenschaftler oder Wirtschaftswissenschaftler werden es schwerer haben als Naturwissenschaftler. „Studienabbrecher sind in den Branchen interessant, wo Fachkräfte fehlen“, sagt Hissel.

Oliver Rick hat seine Lehre im vergangenen Januar abgeschlossen und wurde bei seiner Firma, die Software für ein Warenwirtschaftssystem programmiert, mit einen unbefristeten Vertrag übernommen. „Im Nachhinein bin ich gar nicht traurig, dass das Studium nicht klappte. Ich habe jetzt viel mehr Möglichkeiten.“