„Bis nichts mehr ging“ - Ausstieg aus der Stressfalle

Hamburg (dpa) - Der Journalist Matthias Onken macht rasant Karriere. Mit nur 38 Jahren schmeißt er hin - für ein Leben ohne Dauerstress und ständige Erreichbarkeit. Wie gelingt so ein Ausstieg? Und wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter vor dem Burnout schützen?

Hamburg (dpa) - Der Journalist Matthias Onken macht rasant Karriere. Mit nur 38 Jahren schmeißt er hin - für ein Leben ohne Dauerstress und ständige Erreichbarkeit. Wie gelingt so ein Ausstieg? Und wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter vor dem Burnout schützen?

Selbst Kino war tabu. Zwei Stunden nicht erreichbar sein, zwei Stunden keine Mails checken - für Matthias Onken schlicht undenkbar. Das Gefühl, wichtig zu sein, mächtig, unentbehrlich, gab dem früheren Chef der Hamburger „Bild“-Zeitung einen Kick. Doch jahrelanger Stress und „Megadruck“ machten ihn fertig. Mit 38 Jahren zog er die Notbremse - und kündigte. Seinen Ausstieg aus der Führungsposition hat Onken in dem Buch „Bis nichts mehr ging“ protokolliert. Und zwar erstaunlich offen.

Baldrian und Aspirin zum Frühstück, harte Drinks zum späten Feierabend. Dazwischen Arbeit, Arbeit, Arbeit. Es ist sein Traum, Reporter zu sein. Er macht rasant Karriere, nach dem Berufseinstieg beim „Pinneberger Tageblatt“ wird er Chefredakteur der „Hamburger Morgenpost“ und schließlich Redaktionsleiter bei „Bild“ Hamburg. Im Job blüht er auf. „Mein Ego machte Sprünge“, schreibt Onken. „Als Workaholic zu gelten, fand ich cool.“

Sein Privatleben allerdings geht bankrott. Scheidung, zu wenig Kraft und Zeit für seinen ersten Sohn, fast keine Zeit für Freunde. Er fühlt sich zunehmend beziehungsunfähig. „Ich glänzte bei der Arbeit und versagte im Restleben“, sagt der heute 40-Jährige. Als ihm die beruflichen Kicks nicht mehr reichen, haut er sich die Nächte um die Ohren, mit Alkohol, Partys, käuflichem Sex.

Beim Schreiben habe er sich kaum Gedanken darüber gemacht, wie die Reaktionen auf solche „Mini-Outings“ sein werden, erzählt Onken, der inzwischen als Medienberater arbeitet. Darauf, sich öffentlich nackt zu machen, sein seelisches und körperliches Leben zu entblößen. Durch das Buch sei er in eine Art „Beichtvater-Rolle“ gerutscht, habe zig Mails und Briefe mit verschiedensten Stressgeschichten bekommen. Selbst eine Aushilfe in einer Reinigung habe ihn gleich angesprochen: „Das, was Sie haben, hab ich auch.“

In Deutschland erreicht die Zahl psychischer Erkrankungen seit Jahren immer neue Höchststände. Arbeitnehmer fehlen deswegen immer häufiger und immer länger, Zehntausende gehen vorzeitig in Rente. Nach einer Analyse der Krankenkasse DAK-Gesundheit nahmen Depressionen und andere psychische Erkrankungen auch 2012 um vier Prozent zu und rückten erstmals auf Platz zwei aller Krankschreibungen. Und aus dem „Stressreport Deutschland 2012“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geht hervor: Fast jeder Fünfte fühlt sich überfordert - und 43 Prozent der Berufstätigen klagen über wachsenden Stress.

Onken beschreibt sich in seinem Buch als „Kriegsverletzten“: „Die Kriegsverletzungen stammen aus der Schlacht gegen den Stress.“ Stress sei „der Teufel“, heißt es an einer anderen Stelle, und: „Stress macht hässlich“. Wie ein „Junkie“ sei er gewesen, mit Arbeit als Suchtstoff, voller Sehnsucht nach Anerkennung. Das Wort „Burnout“ dagegen fällt in dem Ausstiegs-Protokoll kaum.

Doch gerade durch die grassierende Burnout-Debatte haben seelische Probleme ihr Stigma verloren. Als „Türöffner“ sieht etwa die DAK-Gesundheit das Etikett, schließlich gilt ein Burnout als Krankheit der Tüchtigen: „Burnout ist einfach anerkannter als eine Depression, das schreckt Menschen weniger ab.“

Das Massenphänomen ist aber bis heute nicht einheitlich definiert - der Sammelbegriff fasst eine Vielzahl psychischer Beschwerden in Verbindung mit hoher Arbeitsbelastung zusammen. Das „Deutsche Ärzteblatt“ titelte daher schon Ende 2011: „Modediagnose Burnout“. In dem international gültigen Diagnose-Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10, taucht Burnout nicht auf - und auch nicht im Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, dem DSM-IV.

Was Onken erreichen will, ist ein neuer Umgang mit Stress: Er hofft, dass das Thema „viel weitere Kreise“ zieht. Und dass Unternehmen sich stärker darum kümmern, wie sie ihre Führungskräfte schützen können. Zum Beispiel mit Coachings von Anfang an - und vor allem mit Auszeiten von der ständigen Erreichbarkeit.

Dem 40-Jährigen jedenfalls scheint der Ausstieg aus der Stressfalle gelungen zu sein. Er setze nun andere Prioritäten: „Meinen kleinen Sohn ins Bett zu bringen, das ist der schönste Kick.“ Manchmal frage er sich da kopfschüttelnd: „Wie blöd warst du früher eigentlich?“

Literatur:

Matthias Onken: „Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs“, Rowohlt Verlag, 176 Seiten, 8,99 Euro, ISBN-13: 978-3499630002