Gewalt am Arbeitsplatz - Wie Betroffene sich schützen können
Berlin (dpa/tmn) - Busfahrer, Verkäufer, Pfleger: Sie alle erleben immer wieder gewalttätige Übergriffe von Kunden. In speziellen Trainings lernen Betroffene, ihr Bauchgefühl zu aktivieren. Bei manchen Anzeichen lautet der Rat nur noch: nichts wie weg.
Silvia Neumeier* wollte eigentlich nur einen neuen Patienten, einen älteren Herrn, begrüßen. „Das hatte er wohl nicht erwartet. Er holte mit der Hand aus und kratzte mir mit dem Fingernagel die Lippe auf“, erzählt die Krankenschwester. Immer wieder hat sie es in ihrem Job auf der psychiatrischen Station einer Thüringer Klinik erlebt, dass Patienten aggressiv werden.
Als Krankenschwester gehört Neumeier zu einer Gruppe, in der es häufiger als in anderen Berufen zu gewalttätigen Übergriffen von Patienten oder Kunden kommt. So gab es 2011 laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) bei ihren Kollegen in ganz Deutschland 292 meldepflichtige Arbeitsunfälle durch „Gewalt, Angriff oder Bedrohung durch betriebsfremde Personen“. Darunter fallen laut der Statistik nur Übergriffe, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder zum Tod führen. Kleinere Übergriffe wie bei Silvia Neumeier sind da noch nicht mitgezählt.
Doch Krankenpfleger und -schwestern sind nicht allein mit dem Problem: 2011 wurden 5978 Übergriffe gemeldet. Die meisten Angriffe erlebten Verkäufer. Laut der Gesetzlichen Unfallversicherung sind sie nicht besonders gefährdet: Es sei nur ein Beruf, in dem besonders viele Menschen arbeiten. Neben dem Pflegepersonal tauchen in der Statistik auch Taxifahrer, Freizeit- und Wellnesspersonal, Wach- und Sicherheitsleute, Polizisten und Schaffner auf.
Doch wie lassen sich solche Übergriffe vermeiden? Viele fordern für die Mitarbeiter dann Glaswände als Schutz. Laut Christian Otto geht es jedoch vor allem darum, natürliche Instinkte wieder zu aktivieren. Der Sozialpädagoge bietet bundesweit Deeskalationstrainings an. Ganz wesentlich ist laut Otto, genau hinzusehen und hinzuhören: „Ist die Stimme laut und gepresst, stammelt er, kommt der Atem stoßweise und kurz, hat er geschwollene Adern, einen roten Kopf, große Augen: Es gibt 30 bis 40 Anzeichen, die wir kennen, man muss nur das Bauchgefühl aktivieren.“ Kämen einige Anzeichen zusammen, empfiehlt er den Leuten, nicht mehr zu deeskalieren: „Man sollte sehen, dass man wegkommt.“
Ist die Situation weniger dramatisch, können die richtige Körperhaltung und Sprache für Entspannung sorgen. „Man sollte immer vermeiden, in die Opferhaltung zu gehen, sich klein zu machen und ängstlich zu schauen“, so Otto.
Dennoch lassen sich Übergriffe nicht immer vermeiden. Dann besteht die größte Herausforderung darin, wieder zur Arbeit zu gehen. Silvia Neumeier hatte damals nur etwas Angst vor dem kratzenden Herrn. Probleme mit andern Patienten gab es nicht. „Mir hat es geholfen, das im Team durchzusprechen, wo man sich untereinander tröstet und klärt, ob man einen großen Fehler gemacht hat.“ Genau das richtige Verhalten, findet Psychologe Gerd Reimann, der sich mit Opfern von gewalttätigen Übergriffen beschäftigt. „Soziale Kontakte zu nutzen, ist in jedem Fall der richtige Weg. Völlig falsch ist dagegen, die Situation zu meiden.“
Doch Risikogruppen sollten sich auch vor einem eventuellen Übergriff schon vorbereiten, um das Erlebte später besser zu verarbeiten, so Reimann: „Das Wichtigste ist, sich klarzumachen, dass so etwas passieren kann. Das nimmt dem Ganzen schon viel von der traumatisierenden Wirkung.“ Gut sei, mögliche Ereignisse vorher durchzuspielen. „Wie reagiere ich darauf? Mit Aggression, Rückzug. Angst?“