Nutzen oder Schaden? Überstunden spalten die Gemüter
Köln (dpa) - Statistisch gesehen fallen in Deutschland jährlich mehr als eine Milliarde bezahlte Überstunden an - und wahrscheinlich genauso viele unbezahlte. Das Thema Mehrarbeit sorgt immer wieder für Zündstoff.
Überstunden gehören für viele Arbeitnehmer zumindest zeitweise zum Alltag. So ergab eine jüngst veröffentlichte Umfrage des Bürodienstleisters Regus, dass 13 Prozent der deutschen Angestellten täglich mehr als elf Stunden im Büro sitzen. Doch das Thema Überstunden ist kompliziert: Einen verlässlichen Gesamtüberblick für den deutschen Arbeitsmarkt gibt es nicht. Und über das Für und Wider von Mehrarbeit lässt sich je nach Standpunkt trefflich streiten.
„Überstunden sind in Deutschland traditionell ein Instrument, um in Unternehmen eine hohe interne Flexibilität zu erreichen“, erläutert Alexander Herzog-Stein, Referatsleiter für Arbeitszeitforschung beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Bei den klassischen Überstunden bleibt der Arbeitnehmer länger und erhält dafür mehr Geld. Diese Form der Vergütung ist seit den 1970/80er Jahren zugunsten von Arbeitszeitkonten seltener geworden: Hier kann der Mitarbeiter seine Überstunden später abfeiern oder sogar für einen früheren Renteneintritt ansammeln.
Für die Unternehmen bedeuten Arbeitszeitkonten ein höheres Maß an Flexibilität, um auf konjunkturelle Schwankungen zu reagieren: In guten Zeiten arbeiten die Mitarbeiter länger, in schlechten Zeiten bauen sie Überstunden ab. „Das ist besser, als auf Kurzarbeit gehen zu müssen“, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Die demografische Entwicklung wird seiner Ansicht nach in Zukunft großen Einfluss auf das Thema haben. „Dort, wo Fachkräftemangel herrscht, wird der Druck größer sein, Überstunden zu machen.“ Andererseits müssten noch viel mehr Unternehmen Langzeitkonten schaffen, damit Mitarbeiter vor allem in körperlich anstrengenden Berufen die Arbeitszeit ihrem Alter entsprechend anpassen könnten, fordert Lesch.
Gewerkschaften argumentieren zeitweise, dass ein Betrieb mit vielen Überstunden besser zusätzliche Arbeitsplätze schaffen solle. „Damit ginge dem Unternehmen aber die Flexibilität verloren“, setzt Lesch dagegen. Deshalb stellten viele Betriebe bei einem Auftragsboom lieber Zeitarbeiter statt fester Kräfte ein.
Ein vollständiger Überblick zum Umfang von Mehrarbeit existiert hierzulande nicht. Statistisch erfasst sind beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nur die klassischen bezahlten Überstunden: Demnach leisteten die Arbeitnehmer in Deutschland im Jahr 2010 insgesamt 1,3 Milliarden Überstunden. Umgerechnet bedeutet dies, dass jeder Beschäftigte im Schnitt pro Woche 0,9 Überstunden machte. „Hinter diesem statistischen Durchschnitt verbirgt sich eine große Streuung“, betont der zuständige IAB-Referatsleiter Eugen Spitznagel.
„Wir gehen davon aus, dass es genauso viele unbezahlte Überstunden gibt wie bezahlte“, sagt Spitznagel. Die Gründe für kostenlose Mehrarbeit reichten vom persönlichen Ehrgeiz des Mitarbeiters bis hin zum Zwang durch den Arbeitgeber.
„Je klarer die Arbeitszeiten in einem Betrieb geregelt sind, desto einfacher sind sie einzuhalten“, sagt Herzog-Stein. „Je höher die Qualifikation, desto mehr geht es zu flexibler Arbeitszeit bis hin zu Vertrauensarbeitszeit.“ Da sähen sich viele Beschäftigte unter dem Druck, mehr zu arbeiten als vorgesehen.
„Beim Thema Überstunden gibt es nicht schwarz/weiß“, meint Herzog-Stein. „Die Frage ist immer, wo bei Überstunden die Grenze liegt.“ Diese sei spätestens dann erreicht, wenn es an die Substanz der Menschen gehe und Überstunden zum Dauerzustand würden. „Dann besteht die Gefahr, dass ein Betrieb seine Arbeitskräfte kaputt macht.“