Schreiben, um zu bleiben? - Experten beklagen „Forschungsmüll“
Berlin (dpa) - Ohne Forschung kein Fortschritt - daher Investieren Staaten und die Industrie Milliarden in die Wissenschaft. Doch das System hat Fehler, kritisieren Experten. Es bringe teuren „Forschungsmüll“ hervor.
„Früher haben sich Paare auch schon über Sex und Geld gestritten.“ Das ist keine bahnbrechende Erkenntnis? Dies ist immerhin an der renommierten Harvard-Universität in den USA erforscht worden. Der Verfasser hat die Essenz seiner historischen Arbeit ins Netz gestellt: Im Blog „LOL My Thesis“, in dem die Biologiestudentin Angela Frankel Forschungsergebnisse in einem Satz sammelt. „Quallen mögen es nicht, wenn man Säure in ihr Aquarium kippt“, schreibt darin etwa ein Meeresbiologe aus Schottland.
Rund 26 800 Menschen haben 2012 nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland ihre Promotion abgeschlossen. Wer in der Wissenschaft etwas werden oder bleiben will, kommt um die Produktion mehr oder weniger relevanter Thesen nicht herum. „Die finanzielle Belohnung hängt davon ab, wie viel und wo ich publiziere“, sagt der Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, Gerd Antes. Viele Anreize setzten auf Quantität statt auf Qualität - auf Kosten der wissenschaftlichen Relevanz und manchmal der Korrektheit.
Es sei ein fächerübergreifendes Problem, betont Antes, aber nicht überall mit gleich gravierenden Folgen: „In vielen Fächern geht Verschwendung auf den Geldbeutel, in der Medizin kann es Krankheit und schlimmstenfalls Tod für Patienten bedeuten.“ Studien, die nicht das gewünschte Ergebnis brächten, würden oft geschönt oder fielen unter den Tisch. Etwa, wenn ein neues Medikament sich nicht als wirksamer erweise als sein Vorgänger - dabei sei das eine wichtige Information. Aber eben nicht so sensationell, dass sich Fachmagazine und Journalisten darauf stürzen. „Alle hängen davon ab, dass das, was sie machen, möglichst aufregend ausschaut.“
Antes ist mit seiner Kritik nicht allein. Über falsche Anreizsysteme und daraus entstehenden „Forschungsmüll“ klagten zuletzt zahlreiche Wissenschaftler in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“, die in Großbritannien erscheint. Und der britische Physiker Peter Higgs, der 2013 den Nobelpreis erhielt, bekannte in der Londoner Zeitung „The Guardian“, für eine Karriere im heutigen akademischen System wäre er nicht produktiv genug.
Ob eine Idee förderungswürdig ist, entscheidet die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) viele Tausend Male pro Jahr. „Man könnte fast sagen, die DFG tue nichts anderes, als erstklassige Forschung von weniger guter Forschung zu unterscheiden“, sagt Präsident Peter Strohschneider. Von etwa 18 500 Anträgen auf Förderung im Jahr 2012 lehnte die Gesellschaft rund 63 Prozent ab. „Wissenschaftliche Qualität und Relevanz“ seien die entscheidenden Kriterien, erklärt Strohschneider. Das könnte mit gesellschaftlicher, ökonomischer oder auch politischer Relevanz einhergehen - „muss es aber nicht“.
Aus Antes' Sicht braucht die Forschung auch in Deutschland Anreizsysteme, die stärker als bisher Relevanz und Bedarf berücksichtigen. „Die Wissenschaft allein wird es nicht richten“, sagt er und sieht auch die Politik in der Pflicht. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) habe etwa eine „Datenbank der Lücken“ zu medizinischen Themen erstellt - ein sinnvoller Ansatz in seinen Augen. Fraglich sei, ob der Nutzen-Maßstab auf jedes Fach anwendbar ist. „Ich glaube, das ist bei den Geisteswissenschaften sicherlich schwieriger, die harte Skala Tod und Krankheit gibt es dort nicht.“
So überflüssig manche Studien erscheinen - Preise lassen sich auch mit skurrilen Themen abräumen. Jedes Jahr vergibt die Zeitschrift „Annals of Improbable Research“ (deutsch: Jahrbuch für unwahrscheinliche Forschung) Ig-Nobelpreise für absurde Arbeiten. „Steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kühe sich hinlegen, je länger sie stehen?“ hieß eine der ausgezeichnete Arbeiten 2013. Eine andere: „Wer sich für betrunken hält, denkt auch, er sei attraktiv.“