Begabungsforschung: Kein Mensch ist unmusikalisch

Hannover (dpa) - „Jeder kann singen oder ein Instrument lernen“, sagt Daniel Müllensiefen. Der 45 Jahre alte Musikpsychologe von der University of London will in einer Langzeitstudie ergründen, wie sich musikalische Fähigkeiten im Alter zwischen 10 und 20 Jahren entwickeln.

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Dabei soll geklärt werden, warum für manche Jugendliche die Musik einen wichtigen Stellenwert im Leben bekommt, vielleicht sogar zum Berufsziel wird, während andere sich irgendwann nur noch aufs Radiohören beschränken. Das auf fünf Jahre angelegte Kooperationsprojekt am Hanover Music Lab der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) wird mit 250 000 Euro von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung gefördert.

Müllensiefens Forschungsvorhaben wurde auch ausgewählt, weil er einen neuen Weg gefunden hat, um Musikalität - er spricht von musikalischer Erfahrenheit - zu messen. Dieser sogenannte Goldsmith Musical Sophistication Index (Gold-MSI) besteht aus einem Selbstauskunfts-Fragebogen sowie einer Vielzahl von praktischen Tests. Eine Stärke des Gold-MSI sei, dass er viele Facetten berücksichtige, sagt der Leiter des Hanover Music Lab, Reinhard Kopiez. Dazu zählen etwa das Komponieren, Musikkritik und -vermittlung sowie Empathie, also das Gespür eines DJs für das Stück, das die Leute auf der Tanzfläche als nächstes hören wollen.

„Musikalische Kompetenz bedeutet weit mehr als ein Instrument zu beherrschen oder gar Musik studiert zu haben“, sagt Kopiez. Der Wettbewerb „Jugend musiziert“ erkenne dies inzwischen an, indem es zumindest in manchen Bundesländern auch einen DJ-Contest gebe. „Die Geschichte ist voll von Musikern, die durch alle Raster fallen. Paul McCartney gehört dazu oder auch der Gitarrist Django Reinhardt“, betont Kopiez.

Die neuen Medien erweitern die Möglichkeiten, sich mit Musik zu beschäftigen. Der Leiter des Instituts für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) an der Universität Paderborn, Heiner Gembris, sagt: „Sie können mit Hilfe unzähliger Tutorials im Internet Gitarre oder andere Instrumente lernen.“ Nach Angaben des Deutschen Musikrates musizieren mindestens 14 Millionen Menschen in Deutschland in ihrer Freizeit oder singen in einem Chor. Dass Musikalität eine „Gabe“ ist, über die nur wenige Ausnahmetalente verfügen, sei ein großes Vorurteil, schreibt der Autor Christoph Drösser in seinem Buch „Hast du Töne?“.

Was aber bringt die einen dazu, am Ball zu bleiben, während die anderen ein Instrument aufgeben, weil sie genervt vom Üben sind oder keine Zeit mehr haben? In Vorstudien mit Schülern in England sowie in Baden-Württemberg haben Müllensiefen und sein Team festgestellt, dass es Schnittmengen zwischen musikalischen Fähigkeiten, guten Schulnoten, Intelligenz und der eigenen Wahrnehmung der Jugendlichen gibt.

„Wer daran glaubt, sich durch Üben verbessern zu können, ist oft auch musikalisch“, sagt Müllensiefen. „Wir wollen herausfinden, ob diese Einstellung zuerst da ist oder ob Kinder vielleicht anhand eines Instruments lernen, dass man durch Üben etwas erreichen kann.“

Begabungsforscher Gembris ist überzeugt: „Ein positives Selbstbild hat einen wesentlichen Einfluss auf die Musikalität.“ Dies hänge erheblich vom Elternhaus und auch von den Lehrern ab. „Deshalb sollte keinem Kind gesagt werden: „Du bist unmusikalisch“, weil ihm sonst das Selbstvertrauen und die Freude genommen werden. Jeder Mensch ist musikalisch begabt, die einen mehr, die anderen weniger.“

Die Langzeitstudie in Hannover soll Erkenntnisse zu den angenommenen positiven Wirkungen des Musizierens bringen. Einen Forschungsüberblick dazu hat Gembris für die Bertelsmann Stiftung zusammengestellt. Darin wird deutlich: Die Formel „Musik macht intelligent“ ist zu einfach und nicht empirisch belegt. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Musizieren über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg positive Einflüsse auf die kognitiven Leistungen von Kindern haben kann.

Wer musiziert, scheint außerdem besser in der Lage zu sein, mit seinen Gefühlen umzugehen. „In jüngster Zeit weisen Forschungen vor allem den positiven Einfluss von Singen und Musizieren auf das Wohlbefinden und die Gesundheit nach“, sagt Gembris. Dies könne etwa bei Förderprogrammen für Flüchtlingskindern von Interesse sein.