Änderung in Sicht Das dritte Geschlecht: Zeit für eine umfassende Reform?

Karlsruhe (dpa) - Der Gesetzgeber muss das deutsche Geburtenregister künftig besser auf Intersexuelle zuschneiden. Wenn - wie bisher - ein Geschlecht eingetragen wird, dann braucht es neben den Möglichkeiten „weiblich“ und „männlich“ eine dritte Option.

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Die Entscheidung der dritten Option veröffentlichten die
Karlsruher Richter in einem Beschluss am Mittwoch. Der Gesetzgeber muss das Personenstandsrecht nun bis Ende 2018 ändern. Verbände fordern, die Entscheidung zum Anlass für eine umfassende Reform zu nehmen. (Az. 1 BvR 2019/16)

Geklagt hat Vanja, intersexuell, weder Mann noch Frau, geboren mit
einem atypischen Chromosomensatz. Nach Schätzungen gibt es rund
80 000 intersexuelle Menschen in Deutschland. Seit 2013 besteht
die Möglichkeit, die Eintragung im Geburtenregister offen zu lassen,
wenn das Geschlecht eines Neugeborenen nicht eindeutig ist.

Diese Variante „fehlende Angabe“ hilft Intersexuellen aus Sicht der
Karlsruher Richter aber nicht weiter. Denn dadurch würde nicht
abgebildet, dass sie sich nicht als geschlechtslos begreifen, sondern
nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder
weiblich haben. „Der Personenstand ist keine Marginalie“, heißt es in
dem Beschluss. „Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die
individuelle Identität herausragende Bedeutung zu.“

Intersexuellen einen extra Eintrag im Geburtenregister zu verwehren,
sei deshalb ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, für
den das Bundesverfassungsgericht keinen Grund sah. Bürokratischer und
finanzieller Aufwand oder die Ordnungsinteressen des Staates ließen
die Richter nicht gelten. Ein gewisser Mehraufwand sei hinzunehmen.

Unterstützt wurde Vanja von der Kampagne „ Dritte Option“. Den Sieg in Karlsruhe konnten sie am Mittwoch zunächst kaum fassen: „Das grenzt an eine kleine Revolution“, lautet die erste Reaktion. „Endlich ist auch durch das Bundesverfassungsgericht anerkannt worden, dass es mehr Geschlechter gibt als Mann und Frau“, sagte Sprecher Moritz Schmidt.

„Das Urteil ist ein großer Fortschritt in Richtung Freiheit. ... Da
kann man einfach nur dankbar sein, dass wir in dem Punkt ein so
progressives und modernes Bundesverfassungsgericht haben“, sagte
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter zur Entscheidung der Karlsruher
Richter.

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
erklärte, auf Karlsruhe sei „wie so häufig Verlass. Das Gericht ist
dem Gesetzgeber einmal mehr voraus. Der Erste Senat stärkt mit dieser
Entscheidung zum dritten Geschlecht das Selbstbestimmungsrecht
intersexueller Menschen.“ Dies sei ein Durchbruch für alle
Betroffenen.

Der Gesetzgeber kann bis Ende 2018 einen dritten Geschlechtseintrag
schaffen - etwa „inter“ oder „divers“, wie es Vanja gefordert hat. Er
kann aber auch ganz auf einen Geschlechtseintrag verzichten.

Der Deutsche Ethikrat hatte empfohlen, den zusätzlichen Eintrag
„anderes“ zuzulassen. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte
setzt sich für diese Variante ein. „Für die Selbstidentifikation kann
eine offizielle Bestätigung wichtig sein, zum Beispiel bei
transgeschlechtlichen Menschen“, sagte Referentin Petra Follmar-Otto.

Sie schlägt zudem vor, nach der Geburt zunächst nichts ins
Personenregister einzutragen. „Ab 14 Jahren sollen Kinder dann selbst
über ihren Geschlechtseintrag entscheiden können.“

Vanjas Anwältin Katrin Niedenthal geht davon aus, dass sich die
Entscheidung auch auf andere Lebensbereiche auswirken wird. Das
Bundesverfassungsgericht stellte nämlich ausdrücklich fest, dass das
Verbot, jemanden aufgrund seines Geschlechts zu diskriminieren, nicht
nur Frauen und Männer schütze.

„Historisch“ nennt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes deshalb
die Entscheidung. Für intergeschlechtliche Menschen sei dies die
Anerkennung ihres jahrzehntelangen Kampfes für Selbstbestimmung.
Behördenchefin Christin Lüders forderte eine umfassende Reform der
Rechtslage hin zu einem modernen Geschlechtsidentitätsgesetz.

Dafür spricht sich auch Follmar-Otto vom Menschenrechtsinstitut aus.
Besonders wichtig sei neben dem dritten Geschlechtseintrag ein
klarstellendes Verbot, geschlechtsangleichende Operationen an Kindern
vorzunehmen. „Im Jahr gibt es etwa 1500 solcher medizinischer
Eingriffe“, sagte Follmar-Otto. Eltern sollten nicht stellvertretend
für ihre Kinder in eine solche Operation einwilligen dürfen, soweit
es nicht um die Abwehr einer Lebensgefahr gehe.

Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) mahnte eine zügige
Umsetzung der Entscheidung durch die künftige Bundesregierung an. Das
Bundesinnenministerium kündigte dies auch an. Bei der Gestaltung gebe
es gewissen Spielraum, sagte ein Sprecher. Die Umsetzung einer
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2011 zum
Transsexuellengesetz hängt seit Jahren zwischen den Ressorts fest.