In Jahrzehnten gesammeltes Know-How von Senioren ist gefragt
Weinstadt (dpa/tmn) - Viele ältere Menschen gehen nach einem langen Berufsleben mit Vorfreude in die verdiente Rente und genießen die neu gewonnene Freizeit. Manche fallen aber früher oder später in ein Loch.
Den Senioren fehlt dann das Gefühl, etwas leisten zu können oder gebraucht zu werden.
Ein Ausweg bietet die Weitergabe des eigenen Wissens. „Das kann der eigenen Moral großen Auftrieb geben, wieder in seinem Fachgebiet tätig zu sein“, weiß Prof. Hans Gutzmann. Besonders motivierend ist dabei die Aussicht auf Wertschätzung, wie der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie sagt. Denn über die Jahrzehnte im Job haben Senioren oft eine Menge wertvoller und gefragter Erfahrungen gesammelt.
Hans-Herbert Dörfner hat 48 Jahre gearbeitet. Zunächst als Bäcker und Konditor, dann lange Zeit als Chemietechniker. Er beschäftigte sich mit modifizierten Getreidesorten und großen Industriebacköfen. Er gab sein Wissen bereits zu Berufszeiten weiter: An Schulen und Handwerkskammern erklärte er die Geheimnisse des Getreides für das Bäckerhandwerk. „Ich wollte Berufsanfängern dabei helfen, für sich ein ordentliches Fundament an Wissen zu bauen“, sagt er. Dann kam 2009 der Ruhestand. Zwar behielt Dörfner seinen Lehrauftrag, dennoch blieb nun ohne den Job viel freie Zeit - und angesammeltes Know-How.
Menschen wie Dörfner sucht der Senior Experten Service (SES) aus Bonn. Die gemeinnützige Gesellschaft entsendet Fachkräfte im Ruhestand aus verschiedenen Bereichen zu Einsätzen bei Firmen, öffentlichen Institutionen sowie Schul- und Bildungseinrichtungen im In- und Ausland. Die Ruheständler sind ehrenamtlich unterwegs, bekommen ein kleines Taschengeld sowie die Unkosten erstattet. Es geht um den Wissenstransfer, sagt Sprecherin Heike Nasdala. „Wir besetzen keine Arbeitsplätze, sondern geben Hilfe zur Selbsthilfe.“
Dörfner ist ein gefragter Experte. Er war inzwischen auf zehn Einsätzen, meist im Ausland: China, Türkei, Bosnien-Herzegowina, Tansania. Zuletzt flog der 71-Jährige nach Kasachstan. Dort bekam er es mit einem PC-gesteuerten Ofen zu tun. „Ich habe mich im Vorfeld intensiv mit den Programmen der Anlage beschäftigt und konnte dann vor Ort eine Menge Probleme beheben“, erzählt er. Im Gesicht der Leute habe man die Dankbarkeit ablesen können. „Das motiviert enorm.“
Fast 12 000 Experten sind beim SES registriert, sie sind im Schnitt 70 Jahre alt. „Viele möchten der Gesellschaft etwas zurückgeben und wollen auch im Ruhestand gebraucht werden“, erklärt Nasdala. „Es macht auch viel Spaß. Und warum sollen fast 50 Jahre Berufserfahrung einfach im Sand versiegen?“, ergänzt Dörfner.
Auch im Haushalt wächst über die Jahre ein großer Wissensschatz. Und eine Menge Lebenserfahrung haben Senioren sowieso. Dieses Know-How ist gefragt. Der Verband Seniorpartner in School (SiS) vermittelt Senioren als Mediatoren in Schulen. Sie helfen dann etwa bei Problemen zwischen Schülern oder Schülern und Lehrern.
In vielen Städten gibt es laut Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen Freiwilligenagenturen, die ehrenamtliche Tätigkeiten vermitteln, sagt Sprecherin Ursula Lenz. Auch Seniorenbüros, von denen es in Deutschland mehr als 200 gibt, seien gut vernetzt. Ebenso wie Begegnungsstätten für Senioren.
Gerade älteren Frauen gibt es viel Wertschätzung, die Familie der eigenen Kinder zu unterstützen. „Mit ihrer großmütterlichen Kompetenz können sie ein wertvoller ruhender Pol sein“, sagt Gutzmann. Das ist auch außerhalb der Familie gefragt. Lenz erzählt von einem Projekt der Kölner Seniorengemeinschaft: „Dort bringen ältere Frauen Studenten Grundzüge des Kochens bei. Genau wie Stricken und Häkeln.“
Dörfner führte sein Fachwissen bis nach Afrika. In Addis Abeba blieb er einmal im Hotelaufzug stecken. Stromausfall - ein häufiges Ärgernis in der äthiopischen Hauptstadt. „Das war ein Erlebnis der besonderen Art, denn im Aufzug gab es keinen Alarm.“ Nach längerer Zeit floss der Strom wieder, der Aufzug fuhr weiter.
Deutlich schlimmer waren die Stromaussetzer an seinem Einsatzort: Eine Fabrik mit einer Backwarenstraße aus Italien. „Als Tausende Kekse durch den Ofen liefen, fiel wieder einmal der Strom aus. Das Band stoppte abrupt, die Kekse verbrannten“, erzählt Dörfner. „Bloß gut, dass das nicht der erste Einsatz war.“ Es wäre wohl gleichzeitig der letzte gewesen. Stattdessen steht die nächste Reise bereits fest: Diesen Sommer fliegt er nach Armenien.