Mit dem Rollator zur Uni: Studieren 50 Plus in Mainz
Mainz (dpa) - „Zuhause auf dem Sofa wird man schneller alt“, sagt Paul Baumann. Deswegen sitzt der 75-Jährige mehrmals in der Woche in den Hörsälen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hier geht er seit zehn Jahren seiner Leidenschaft nach, dem Philosophiestudium.
Baumann zitiert gerne Lebensweisheiten, wie zum Beispiel „ein Mensch ist nicht alt, solange er noch sucht.“ Immer mit dabei an der Universität: sein Rollator. Er ist nur einer von mehr als 800 Menschen, die an der Mainzer Universität Kurse im Rahmen von Studieren 50 Plus besuchen.
Begonnen hat die Hochschule das Studienprogramm für Ältere vor 15 Jahren mit nur zehn Veranstaltungen - heute gibt es Dutzende Kurse, von „Fälschungen in der Ägyptologie“ über „Ökonomie der Globalisierung“ bis hin zu „Die Gottesfrage in der philosophischen Reflexion“.
Die Teilnehmer haben keinen Prüfungsstress und müssen keine Hausarbeiten schreiben. Trotzdem betreiben sie ihr Studium meist mit einer hohen Ernsthaftigkeit, wie Programmleiterin Kathrin Hanik bestätigt. „Für die Teilnehmenden hat das Studium eine enorme Bedeutung. Sie denken sich nicht: Ich habe nichts Besseres zu tun und gehe eben zur Uni.“
Der Philosophie-Liebhaber Baumann sagt von sich, er wolle an der Universität endlich zu sich selbst finden - eine Lebensaufgabe, die er lange Zeit zurückstellte. Bis zu seiner Pensionierung war er Berufsschullehrer für lern- und verhaltensschwierige Schüler. „Im Berufsleben gab es auch mal schöne Momente, aber das war nicht das, was ich eigentlich sein wollte“, sagte er.
An der Universität entschied sich der 75-Jährige, dessen Hände zittrig, die Augen etwas trüb, der Geist aber glasklar ist, gezielt gegen ein Gasthörerstudium. Dieses wird im regulären Lehrbetrieb angeboten, wenn Kapazitäten dafür frei sind. Baumann mag das nicht. „Da hat man den Eindruck, die Jungen denken, der Alte nehme ihnen einen Platz weg“, sagt er. Und fügt scherzend hinzu: „Zum Glück habe ich immer meinen Rollator dabei und könnte darauf sitzen.“
Margarete Deptolla hat im Gegensatz dazu häufig Kontakt zu den regulär immatrikulierten Studenten auf dem Campus. Die 72-Jährige singt mit ihnen im Uni-Chor, geht zum Uni-Sport und kennt viele jüngere Kollegen aus der Zeit, als sie im Chemie-Labor der Universität arbeitete. Sie genießt es sichtlich, Wissen und Erfahrungen in sich aufzusaugen. „Hier stehen so viele Türen und Fenster offen“, sagt sie.
Tatsächlich sind die Kurse für alle gedacht, selbst für Unter-50-Jährige, für Über-80-Jährige und auch für Menschen ohne Abitur. Nur etwas Geld mehr müssen die Teilnehmer mitbringen, denn das Programm muss sich selbst finanzieren. Die Kurse kosten zwischen 25 und 140 Euro. Viele der Lehrenden des Programms Studieren 50 Plus geben auch Seminare für die Jüngeren auf dem Campus.
Die Kunstgeschichte-Dozentin Sylvia Laun hingegen unterrichtet nur noch Ältere. „Das fasziniert mich, wie die Senioren-Studenten wieder jung werden. Sie halten sich zum Beispiel gegenseitig Plätze frei und nehmen auch sonst den Habitus der jüngeren Studierenden an“, sagt sie. In den Seminaren und auf Exkursionen etwa nach Florenz und Berlin würden zahlreiche Freundschaften geknüpft.
Eine generelle Zusammenlegung der Älteren und Jüngeren befürwortet kaum jemand an der Universität. „Die Senioren haben mehr Lebenserfahrung, mehr Selbstbewusstsein. Sie wenden sich direkt an den Dozenten - was die Jungen oft als falsch empfinden“, sagt Laun. Programmleiterin Hanik ergänzt, dass die Senioren sich und ihre Erlebnisse gerne einbrächten. „Wenn ein Kurs mehr Zeit braucht wegen der intensiven Diskussionen, wird der Rest des Stoffes eben in einem Fortsetzungsseminar gemacht“, sagt sie. Es stünden ja keine Klausuren an.
Die immatrikulierten Studenten sehen in den Älteren keine Konkurrenz. „Jeder hat das Recht auf Bildung“, sagt etwa der 23-jährige Georges Laventure. Alexander Bonus, 24, pflichtet ihm während eines nachmittäglichen Bieres auf dem Campus bei. „Meine Mutter macht das auch. Es ist gut, wenn sich die Älteren noch einmal selbst verwirklichen. Oft weiß man erst später, was einem im Leben fehlt.“
Student Baumann würde der geselligen Runde vor dem Hörsaal der Alten Mensa sicherlich beipflichten - wenn er mit seinem Rollator nicht Probleme hätte, dorthin zu kommen. Eines von Baumanns Zitaten, das er dem französischen Philosophen und Schriftsteller Voltaire zuschreibt, lautet: „Erst im Alter komme ich zu mir selbst.“