Nur nicht zu streng werden: Im Alter aufs Leben zurückblicken
Berlin (dpa/tmn) - Beim Betrachten des eigenen Lebens raten Fachleute: gnädig mit sich selbst sein. Jeder Mensch hat Dinge getan, die er im Rückblick lieber anders gemacht hätte. Nagen die Zweifel jedoch zu sehr, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein.
Liegt es am Alter oder an der vielen Zeit, die der Rentner nun hat? Immer häufiger erinnert sich der 76-Jährige an seine Kindheit: Wie sein Vater bei Wind und Wetter die Post in dem kleinen Dorf ausgetragen hat. Wie er bei seinem ersten Job als Verkäufer vom Chef schikaniert wurde. Und er stellt sich Fragen: Wie sein Leben wohl gewesen wäre, wenn er jemals aus seinem Heimatdorf weggezogen wäre? Und vielleicht hätte er mehr Zeit mit den nun längst erwachsenen Kindern verbringen sollen? Rückblicke aufs Leben können sinnvoll und wichtig sein. Allzu streng sollte dabei allerdings niemand werden.
So könnten sich Senioren ihr Leben zum Beispiel als eine Kette mit schwarzen und weißen Perlen vorstellen, rät die Psychotherapeutin Christa Roth-Sackenheim aus Andernach in Rheinland-Pfalz. Schwarz steht für die schlechten Ereignisse, weiß für die positiven. „Das ist gut, um das Ganze zu sehen und sich nicht an dem Schlechten festzuhalten“, erklärt sie. Bei den negativen Punkten hilft es oft, sich eines klar zu machen: Man hat damals in der Regel so gehandelt, weil man es (noch) nicht besser wusste.
„Wenn man sich selbst sagen kann, dass man sich nichts vorzuwerfen hat, ist das gut. Egal, ob es stimmt oder nicht“, plädiert auch der Psychotherapeut Roland Urban aus Berlin für Gnade mit sich selbst. Außerdem habe jeder Mensch Erlebnisse, von denen er rückblickend sagt: Da hätte ich besser anders gehandelt. „Und wer wirklich große Fehler gemacht hat, dem kann aktive Reue helfen, indem er zum Beispiel um Verzeihung bittet“, erklärt seine Kollegin Roth-Sackenheim.
Das Problem im Alter: Unverarbeitete Erlebnisse können wieder hochkommen. Ein ganzes Leben lang wurden sie erfolgreich verdrängt, nun sind sie wieder da. Die Gründe sind unterschiedlich. So kann der Rückblick aufs Leben die Erinnerungen wieder lebendig werden lassen. Oder die Menschen sind krank oder werden schwächer. Ihre Abwehr lässt nach, vielleicht fühlen sie sich in ihrer Krankheit ähnlich machtlos wie bei einem früheren Erlebnis, das so wieder aktiviert wird.
„Eines der zentralen Probleme derzeit sind die Kriegsfolgen im Alter“, sagt Prof. Meinolf Peters vom Institut für Alternspsychotherapie und Angewandte Gerontologie in Marburg. Die Senioren von heute haben den Krieg als Kinder oder Jugendliche miterlebt, viel gesprochen wurde in dieser Generation darüber in der Regel nicht. „Man hatte keine Zeit dazu und wollte auch nicht reden“, meint Urban. Wenn die alten, schlechten Erinnerungen nur ab und zu mal aufblitzen, ist das kein Problem. Anders sieht es aus, wenn sie immer wieder hochkommen. „Dann wollen sie gesehen werden“, so Urban.
Werden sie nicht beachtet und bearbeitet, kann das üble Folgen haben. Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, können zu Depressionen, Angststörungen und psychosomatischen Krankheiten führen. Die gute Nachricht: Auch uralte Traumata und Probleme lassen sich erfolgreich behandeln. „Das Trauma wird entschärft, verliert an Bedrohung und belastet weniger“, erklärt Prof. Peters. Dazu bedarf es allerdings eines Psychotherapeuten. Den Weg in seine Praxis gehen Senioren in der Regel ungern, auch aus Angst für verrückt gehalten zu werden. Manche Senioren verfallen auch in die Haltung, dass es eben im Alter normal sei, in trübe Gedanken zu verfallen.
Mittlerweile setze allerdings ganz langsam ein Umdenken ein, berichtet Prof. Peters. „Die Behandlungszahlen bei Senioren steigen allmählich an. Es kommen vor allem gebildete Frauen im Alter zwischen 60 und 69 Jahren.“ Die große Problemgruppe seien ältere Männer, die anscheinend von Psychotherapie nichts wissen wollen.
Andererseits sind die Psychotherapeuten auch nicht unschuldig daran, dass so wenig ältere Menschen zu ihnen kommen. Über mehrere Jahrzehnte herrschte unter ihnen die Meinung, dass bei Senioren sowie nichts mehr zu machen sei. Alles sei schon festgelegt und nicht mehr zu ändern - warum also etwas mühsam aufwühlen?
Heute bezahlen die Krankenkassen meist problemlos die psychoanalytische oder verhaltenstherapeutische Behandlung von Älteren. „Dieser Lebensabschnitt ändert sich ja auch grundlegend. Die Menschen werden immer älter und bleiben immer länger gesund“, sagt Prof. Peters. Die Therapie bei Senioren verläuft häufig sogar kürzer als bei jüngeren Menschen, denn sie bringen aufgrund ihrer Lebenserfahrung viel Nützliches mit. „Sie haben gelernt, mit Schwierigkeiten umzugehen, wissen, was sie wollen und sind bereit, gezielt an ihren Problemen zu arbeiten“, so Peters.