Web-Individualschule Bochum: Unterricht per Internet

Leon wurde ständig gehänselt, Chiara wuchs der Stress über den Kopf. Kinder, die an Regelschulen scheitern, finden an der Web-Individualschule Hilfe.

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„Erkläre mir, was an den Waffen im Ersten Weltkrieg so anders war als in den Kriegen davor“, sagt Julia Wirth und blickt in den Monitor ihres Notebooks, das vor ihr auf dem Schreibtisch steht. Dort ist die 17-jährige Chiara zu sehen und zu hören, wie sie jetzt — leicht verwackelt — antwortet. Verbunden sind die Schülerin aus Hamburg und die Lehrerin aus Bochum über Skype. Geschichtsunterricht an der Web-Individualschule, die einzige ihrer Art in Deutschland, weil sie computerbasierte Fernschule mit individueller Betreuung verbindet.

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„Wir sind für die da, die durchs Raster fallen“, erklärt Schulleiterin Sarah Lichtenberger. Das sind psychisch oder physisch Kranke, Traumatisierte, zunehmend auch Mobbingopfer, Schulverweigerer, junge Mütter oder das Kind, das den beruflich nach China versetzten Vater begleitet. Hin und wieder werden auch besonders talentierte Schauspieler oder Musiker betreut: Marta Martin und Laura Roge während der Dreharbeiten für „Die Vampirschwestern“ und David Kross, als er für „Krabat“ vor der Kamera stand.

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An die Kaulitz-Brüder Bill und Tom von Tokio Hotel, die hier 2008 ihren Realschulabschluss schafften, erinnert sich die 33-Jährige besonders gern. Halfen sie doch, die private Schule vor dem Aus zu retten. 2002 von Vater Gerd Lichtenberger gegründet, weil der in der Jugendhilfe tätige Lehrer zunehmend auf Kinder traf, die an Regelschulen gescheitert waren, reichte der Schülerzuspruch nicht zum Überleben. „Meine Schwester und ich haben dann die Mutter der Kaulitz-Brüder kontaktiert und hatten zwei Tage später ihre Zusage“, sagt Pädagogin Lichtenberger. Der Durchbruch. Seither kommen Anfragen von überall her. Aus der Ein-Zimmer-Schule mit acht Schülern wurde eine Acht-Zimmer-Schule mit derzeit 83 Schülern.

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Geblieben ist das Problem der Finanzierung. Zwar übernimmt das Jugendamt in 80 Prozent der Fälle die Bezahlung — knapp 800 Euro im Monat. Aber 20 Prozent, bedauert Lichtenberger, vertrauen ihr ihre Geschichte an, ohne eine Kostenzusage zu bekommen. Was vor zwei Jahren zur Gründung des Schul-Fördervereins führte, der ein Stipendium übernimmt.

Voraussetzung für die Aufnahme ist eine dauerhafte Krankschreibung oder eine Schulpflichtbefreiung durch einen Psychologen oder Amtsarzt. „Homeschooler nehmen wir nicht auf. Wir sind nicht gegen die Regelschule, sondern wollen denen helfen, die ohne uns keine Chance haben.“

Wie eben Chiara, der der Stress in der Schule über den Kopf gewachsen war: „Ich hatte abends schon Bauchweh, wenn ich an die Schule dachte. Ich war total blockiert, ich bin ja nicht die Leistungsstärkste. Und in der Schule hat mir der Druck durch die anderen sehr zu schaffen gemacht“, erinnert sie sich. Nun bereitet sie sich auf den Realschulabschluss im Mai vor und freut sich auf die Prüfungen, „denn jetzt habe ich ja ein Ziel“.

Auch Leon hat einiges einstecken müssen, bevor er Schüler in Bochum wurde. Der 13-jährige Junge aus Xanten hat das Asperger-Syndrom. Seine Leidensgeschichte begann in der dritten Klasse, berichtet seine Mutter. „Er wollte lernen, aber die Schüler haben ihn gehindert, und die Lehrer waren mit ihm überfordert.“ „Die haben mich gehänselt“, ärgert sich Leon, der Lehrerin Anna Fritsche gerade konzentriert an seinem Computer erklärt hat, warum ein Vesuv-Ausbruch positive und negative Auswirkungen auf die Menschen hat. Seine Odyssee dauerte zwölf Schulen lang, darunter die Hauptschule ebenso wie die Waldorfschule — bis er endlich von der Schulpflicht befreit wurde.

An der Web-Individualschule erwartet die Schüler eine besondere Betreuung. Ein Lehrer unterrichtet jeweils nur einen Schüler und bemüht sich intensiv um ihn: „Wir versuchen, die Schüler ans Lernen heranzuführen, ihr Selbstvertrauen aufzubauen.“ Zeit spielt keine Rolle: Die acht ausgebildeten Lehrer bringen nicht nur Fachwissen, sondern Geduld und Empathie mit.

Da ist zum Beispiel Julia Wirth, die gar nicht Lehrerin werden wollte, weil sie den Frontalunterricht der Regelschulen ablehnt, über ein Praktikum aber zur Webschule kam und seit drei Jahren ganz begeistert unterrichtet, „weil man hier so nah dran ist am Schüler“.

Unterstützt werden die Pädagogen von einem Psychologen. Außerdem wird eng mit den Betreuern der Schüler zusammengearbeitet, um deren Bedürfnisse genau zu ermitteln. Klar, dass auch viel Wert auf ausgewähltes Unterrichtsmaterial gelegt wird: „Sie können Schulverweigerern nicht mit dem Schimmelreiter kommen, eher schon mit Bushido“, schmunzelt Lichtenberger.

Unterrichtet wird täglich von 8 bis 16 Uhr. Dann ist der einstöckige Klinkerbau in der Nähe des Hauptbahnhofs Bochum vom Stimmengewirr der Lehrer erfüllt, die in ihren Büros videochatten. Klausuren gibt es nicht, die Schüler bekommen Hausaufgaben, die sie einscannen: „So ist jeder Tag eine Art Prüfung. Noten sind da eher kontraproduktiv.“

Erst wenn ein Schüler fit genug ist, werden die Lerninhalte auf den angestrebten Schulabschluss abgestimmt, der dann an einer (staatlich anerkannten) Partnerschule in Bochum abgelegt wird. Und manchmal gelingt es auch, einen Schüler in eine Regelschule zu reintegrieren — ein besonderer Erfolg.