„Wir ziehen zu den Kindern“ - Wenn Senioren den Neustart wagen

Hamburg (dpa/tmn) - Die Kisten packen und den Kindern hinterherziehen: Viele Ältere wagen diesen Schritt. Glaubt man Experten, kann das Projekt Großfamilie gelingen. Entscheidend ist, dass Jung und Alt mit realistischen Vorstellungen und viel Toleranz darangehen.

Normalerweise sind es die Kinder, die sich auf den Weg machen: Sie ziehen aus, in eine andere Stadt, des Jobs oder der Liebe wegen. Doch wenn die Enkel kommen, wächst oft wieder der Wunsch nach Nähe. Und so sind es immer häufiger die Alten, die sich auf den Weg machen und zu ihren Kindern ziehen.

„Der Anteil der älteren Menschen wächst, deren nächstwohnendes Kind weiter als zwei Stunden entfernt lebt“, sagt Prof. Clemens Tesch-Römer, Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) in Berlin. Meist ändert sich das aus praktischen Gründen: Die Großeltern werden zur Kinderbetreuung gebraucht und genießen es ihrerseits, die Enkel aufwachsen zu sehen.

„Unsere Tochter machte sich beruflich in andere Städte auf. Und wir begannen zu überlegen: Wie können wir in Zukunft realisieren, dass die Familie oft zusammen ist? Als dann unsere Enkeltochter auf die Welt kam, packten wir zusammen und zogen hin“, erzählt Anneliese Ohl. Mehr als 40 Jahre lebten die 78-Jährige und ihr 73-jähriger Mann Jürgen im thüringischen Gera, seit sechs Jahren wohnen sie nun in Hamburg in der Nähe ihrer Tochter.

Altersforscher Tesch-Römer ist überzeugt, dass das in die Nähe ziehen in der Regel gute Grundlagen hat: Denn die emotionale Verbundenheit zwischen älter werdenden Eltern und erwachsenen Kindern ist meist da. Beide profitieren von diesem Modell: „Die Großeltern können mit den Enkeln zu Ausflügen losziehen oder vielleicht auch einen Teil der Betreuung übernehmen, und die Kinder können praktische Unterstützung beim Einkauf oder in anderen Lebensbereichen leisten.“

Die glücklich vereinte Großfamilie also? Wie gut ein Umzug im Alter gelingt, hängt vor allem davon ab, wie realistisch die Erwartungen sind. „Es ist ein großer Unterschied, ob man nur zu Besuch bei den Kindern ist, oder ob man den Alltag teilt“, gibt Buchautorin Gertrud Teusen aus München zu bedenken. Das Zusammenleben, vor allem unter einem Dach, erfordere ein hohes Maß an Toleranz.

Wer seine eigenen Grenzen nicht klar benennt, läuft Gefahr, dass sich der Ärger irgendwann in einem großen Krach entlädt. „Sprechen, sprechen, sprechen“, rät Prof. Tesch-Römer: „Was stelle ich mir vor als Mutter und Vater - und was nicht? Was wollen die Kinder und was nicht?“ „Ganz schwierig sind emotionale Verrechnungsgeschäfte, in denen man sich vorhält, was man füreinander getan hat“, warnt Christine Sowinski, Diplom-Psychologin beim Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) in Köln.

Sich ein eigenes Umfeld und eigene Interessen zu bewahren, sei ganz wichtig, sagt Sowinski: „Ideal ist es, wenn nicht nur die Kinder und Enkel die Motivation für den Umzug sind, sondern wenn man möglicherweise immer schon mit dem Gedanken gespielt hat, im Alter vom Land in die Stadt zu ziehen.“

Doch die Psychologin warnt auch: „Ein Ortswechsel im Alter muss besonders gut überlegt sein. Junge Menschen ziehen einfach wieder um, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Als alter Mensch macht man das nicht mehr.“ Denn es sind ja auch ganz praktische Mühen damit verbunden: „Ein Umzug ist anstrengend - das unterschätzen viele“, sagt Sowinski. Und er bringt viele Abschiede mit sich: von den Dingen, die in der neuen Wohnung keinen Platz mehr haben, von Freunden, von liebgewonnenen Gewohnheiten.