Börsenspekulation - Zocken bis in die Schuldnerberatung
Erlangen (dpa) - Fast neun Millionen Deutsche handeln mit Aktien. Was den meisten zu Vermögensaufbau und Altersvorsorge dient, wird für andere eine gefährlichen Obsession. Sie zocken Tag und Nacht - und setzen dabei ihr Hab und Gut auf Spiel.
Unglaubliche Summen von zeitweise mehr als 150 Millionen Euro hat Fußballmanager Uli Hoeneß auf Schweizer Banken gehabt - Geld, das er nicht beim FC Bayern verdiente, sondern mit geliehenem Geld durch Spekulation am Devisenmarkt. Nicht immer sind es gleich Millionen, die verzockt werden oder Fußballmanager, die das Börsenfieber packt. Wenn Privatleute täglich Börsengeschäfte machen, der Wunsch nach mehr Gewinn zu einer Sucht ausartet, und gar das eigene Familienheim beliehen wird, um noch mehr Geld für Finanzspekulationen einsetzen zu können, dann ist der Weg zu Verena Kubin nicht weit.
Kubin leitet die Schuldnerberatung beim Caritasverband in Erlangen in Bayern. Der „Falltyp Hoeneß“ ist ihr nicht unvertraut: „Es ist sicher nicht so, dass jeder zweite oder auch nur jeder fünfte unserer Klienten durch Börsenspekulationen in die Schulden geraten ist - aber es kommt vor.“ Tausende sind nach Schätzungen allein in Bayern betroffen. Dass das Zocken an der Börse zu einer Sucht ausartet, scheint fast ein Luxusproblem zu sein: Städte mit hoher Akademikerquote sind eher betroffen als Städte mit viel Industrie. Paare geraten häufiger durch Zocken in eine finanzielle Schieflage als Singles, wie eine dpa-Umfrage bei Schuldnerberatungen ergab.
Die Schuldnerberaterin Kubin erklärt diesen Umstand mit den gesicherten Verhältnissen: „Man braucht ja auch erst einmal einen gewissen finanziellen Hintergrund, um überhaupt investieren zu können.“ Nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts (DAI) hatten im Jahr 2012 etwa 8,8 Millionen deutsche Anleger direkt oder indirekt in Aktien investiert.
So war es auch bei Günther M. (Name geändert), ein Klient, anhand dessen Geschichte Kubin die Problematik schildert: Eigentlich hätte Günther M. alles gehabt: eine glückliche Partnerschaft, gesunde Kinder, ein abbezahltes Heim. Aktien waren für ihn die „Einstiegsdroge“ - sein Arbeitgeber hatte ihm Firmenanteile als Bonuszahlung überlassen. Mit den Kursgewinnen stieg Günther M.s Interesse am Finanzmarkt, „und das war sein Unglück“, berichtet die Schuldnerberaterin.
Günther M. dachte sich: „Da geht noch mehr!“ Dann wurde das Tagesgeldkonto an der Börse investiert. Bloße Aktien reichten ihm bald nicht mehr aus: Mehr Gewinne, dachte er sich, könne er mit sogenannten CFDs und Devisengeschäften erzielen. CFD steht für Contracts for Difference. Diese Differenzkontrakte sind spezialisierte Anlageinstrumente, die durch hohe Hebel aus geringen Kursschwankungen enorme Renditen erzeugen - aber eben auch zu Totalverlusten und Nachschusspflichten führen können.
„Wir hatten vermehrt Fälle, als die Blase am Neuen Markt geplatzt ist“, erklärt Kubin. „Damals trugen Leute ihre Ersparnisse an die Börse, die zuvor nur das Sparkonto gekannt hatten.“ Doch auch seit der Jahrtausendwende kommen immer wieder Zocker zu Kubin in die Beratungsstelle. Was sie dann sieht, lässt die Beraterin an Glücksspielsüchtige denken: „Bei beiden Gruppen findet sich der Wunsch, mit wenig Einsatz großen Gewinn zu erzielen.“ Manche Suchtexperten sprechen von Zehntausenden möglichen Betroffenen.
Bald verbrachte Günther M. jeden Abend vor dem Rechner und handelte Wertpapiere. Er wurde zu einem „Daytrader“, der von kurzfristigen Kursschwankungen profitieren und schnell Gewinne erzielen wollte. Der ursprüngliche Wunsch, sich öfter einen Urlaub gönnen zu können und für das Alter etwas zurückzulegen, war vergessen.
Doch Günther M. machte Verluste: Zuerst die Ersparnisse, dann nahm er auch noch einen Kredit auf sein Zuhause auf. „Schließlich brauchte er Geld, um das verlorene Geld wieder zurückzugewinnen“, erzählt Kubin.
Auch Jürgen Kurz von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) kennt das Problem: „Häufig gehen Leute in so spezialisierte Anlageformen hinein, die da nichts zu suchen haben.“ Privatanleger lassen sich dann von der Werbung vieler Direktbroker blenden und spekulieren lieber, statt zu investieren.
In den Beratungsgesprächen macht Kubin mit ihren Klienten eine Aufstellung von Schulden und Vermögenswerten, sowie von Einnahmen und Ausgaben. Dann ist die Frage: Was kann man verkaufen? Worauf kann man verzichten? Die Privatinsolvenz ist nur ein möglicher Ausgang - der umso wahrscheinlicher wird, je länger der Gang zur Schuldnerberatung hinausgezögert wird. Günther M. zog wohl früh genug die Reißleine.
Seine Verluste holte er an der Börse nicht mehr rein. Als er seiner Frau die Spekulationsverluste gestand, schnallten beide den Gürtel enger: Das zweite Auto wurde verkauft, Reisen aus dem Sommerprogramm gestrichen, das Haus ein zweites Mal abbezahlt. Bei Börsenspekulationen hält Günther M. sich heute zurück.
Auch Jürgen Kurz von der DSW hält vom „Daytrading“ für Privatanleger wenig: „Das viele Handeln macht in der Regel nur die Betreiber der Handelsplattform reich.“