Retro auch beim Essen Alte Obst- und Gemüsesorten bringen mehr Genuss

Lüneburg (dpa) - Zurück in die Vergangenheit - oder das, was man dafür hält. Retro ist beliebt, nicht nur bei Autos und Küchengeräten.

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Auch bei Lebensmitteln richtet sich der Blick mancherorts nach hinten und lässt den Verbraucher so kulinarische Genüsse von einst wiederentdecken, aus der angeblich „guten alten Zeit“, als es weder Dioxin noch Fipronil in Eiern gab.

Der Weg auf der Suche zurück kann zunächst etwa zum Griff nach einem der Kochbücher mit Rezepten der 60er Jahre führen. Eher sentimentale Erinnerungen als geschmackliche Ekstase lösen dann Toast-Hawaii, Käse-Igel und Platten mit kalorienreichen Leckereien wie etwa geräuchertem Aal aus.

Ein Kurs in der nächsten Volkshochschule bietet vielleicht schon eine Steigerung der Genüsse, etwa mit Braten samt Beilagen und Kuchen aus Omas Kochbuch. Ein Bauch bei Männern in den besten Jahren wurde eher anerkennend „gemütlich“ genannt und nicht als lebensbedrohendes Gesundheitsrisiko betrachtet - „gute Butter“ ist das Stichwort. Wer ohne Zutaten aus dem Supermarkt seine Mahlzeiten verfeinern will, kann auf den Spuren alten Wissens bei geführten Wanderungen wie in vorindustrieller Zeit selbst Kräuter und Pilze sammeln.

Manch Grundnahrungsmittel von früher verfügt über eine enorme Geschmacksvielfalt, etwa alte Obst- und Gemüsesorten. Bio-Bauer Karsten Ellenberg im idyllischen Dörfchen Barum bei Uelzen hat sich den Kartoffeln verschrieben. „Es gibt in Europa noch rund tausend zugelassene Sorten, aber auf dem Markt sind nur noch eine Handvoll“, kritisiert der Retter des Knollenklassikers „Linda“.

„Viele Einzelhändler haben gern eine austauschbare Kartoffel, damit sie den Lieferanten leicht wechseln können“, moniert Ellenberg. „So können zu günstige Einkaufspreise erzielt werden und die Vielfalt bleibt auf der Strecke.“ Oft gebe es nur eine festkochende und eine mehligkochende Sorte. Ellenberg selbst baut 100 Sorten an, gut 30 davon verkauft er im Hofladen und per Online-Versand.

Ellenberg ist einer der wenigen Bauern, die selber züchten, seit 20 Jahren schon. Seine „Rote Emmalie“ wurde im Februar Kartoffel des Jahres. „Ich möchte mir nicht von Konzernen vorschreiben lassen, was ich anbauen und verkaufen will“, sagt er. Pflanzen dürften nicht vom Markt verschwinden, nur weil die Industrie keinen Gewinn mehr damit mache. „Außerdem ist der Geschmack der alten Sorten vielfältiger.“

Alte Obstsorten haben auch ihre Anhänger. So kümmert sich der Verein „Konau 11 - Natur“ um die Erhaltung seltener Apfel- und Birnensorten. Seinen Sitz hat er in einem schmucken Fachwerkhaus an der Elbe in der Gemeinde Amt Neuhaus. Auch Pflaumen gedeihen an den vom Verein betreuten Bäumen auf Streuobstwiesen und entlang der Alleen durch die flache Elbmarsch. Freiwillige aus der Region unterstützen den Verein als sogenannte Obstbaumwarte.

„In Absprache mit den für die Straßenbäume zuständigen Behörden pflegen wir die Bäume und dürfen dafür ernten“, erklärt Umweltwissenschaftlerin Cornelia Bretz, Schatzmeisterin des Vereins. „Aus den Früchten machen wir Saft, den mittlerweile auch ein Supermarkt in Lüneburg anbietet“, sagt sie. „Bei sogenannten Mitmachwerkstätten versuchen wir die Menschen für die Erhaltung und altes Handwerk zu begeistern.“ Dabei gehe es vor allem um Veredelungsmethoden. „Außerdem wollen wir möglichst viele Freiwillige dafür gewinnen, regionaltypische alte Sorten zu pflanzen.“

„Noch gibt es eine faszinierende Sortenvielfalt“, sagt Hermann Stolberg. Der 61-Jährige ist Obstkundler, Pomologe also. Er berät den Verein und leitet die Seminare. „Wir brauchen einen breiten Genpool“, betont er. „Die alten Sorten sind deutlich anpassungsfähiger als industrielle Äpfel.“ Das gelte nicht nur für Krankheiten, sondern auch für die Folgen des Klimawandels. „Das kann man bei der aktuellen Hitzewelle gut beobachten.“ Tolerante Sorten seien da im Vorteil. „Im industriellen Landbau muss jetzt schon mancherorts beregnet werden.“

„Es gibt noch mindestens 1500 alte Apfelsorten in Deutschland“, sagt Stolberg. Immer wieder würden weitere entdeckt. „Der konventionelle Anbau bringt bundesweit nur rund 20 Apfelsorten in den Handel“, sagt er. Sie seien besonders beliebt und und könnten leicht geerntet werden. „Die alten Apfelsorten sind multifunktionell“, sagt Stolberg. „Es gab Sorten für Most, für Dörrobst oder zum Einlagern. Es gab saure, süße, feste und mehlige Äpfel. Auch zum Winter gab es noch Sorten, die Früchte trugen und frisch geerntet wurden.“ Es gehe nicht nur um Artenvielfalt betont Stolberg. „Die alten Sorten sind oft einfach köstlich, man möchte immer hineinbeißen.“

Nicht nur bei Mittagessen oder Abendbrot locken Retro-Genüsse. Wem der schon zu DDR-Zeiten beliebte Rotkäppchen-Sekt nicht liegt, der kann zum Lebkuchen nach einem 130 Jahre alten Grundrezept greifen. Die Annie Treats GmbH ist das Start-up von zwei Cousinen aus Hannover. Die beiden wollen mit Lebkuchen Lenchen durchstarten, nach dem Rezept von Oma Lene wird seit sechs Generationen in der Familie gebacken. Jedes Lenchen werde aus 25 Zutaten sorgfältig per Hand gefertigt, geloben die Gründerinnen, auf künstliche Zusatzstoffe und Aromen verzichtet. Nicht nur in Deutschland wird Lenchen verputzt. „Auch nach Dänemark und in die Niederlande liefern wir“, sagt Sales Manager Sören Terkelsen.