Europäische Konkurrenz verdrängt deutsche Sauerkirschen
Hannover (dpa) - Kirschen, leuchtend rot und prall - sie sind derzeit ein Genuss. Doch der kommerzielle Anbau der Sauerkirsche droht hierzulande auszusterben. Europas Konkurrenz ist Schuld. Einziger Lichtblick: Deutsche Süßkirschen sind noch wettbewerbsfähig.
In Astrid Lindgrens Kinderbuchklassikern aus dem schwedischen Bullerbü ist die Welt noch in Ordnung. „Jedes Jahr haben wir ein bisschen Bauchschmerzen in der Kirschenzeit“, heißt es dort. Kirschen satt gibt es in Bullerbü schließlich an jeder Ecke.
Hierzulande sieht es anders aus. Die Kirsche, genauer die Sauerkirsche, stirbt aus. Ihr Anbau ist in den vergangenen 20 Jahren etwa im Agrar- und Obstland Niedersachsen um 90 Prozent eingebrochen. Dort standen Ende 2012 nur noch 18 000 kommerzielle Sauerkirschbäume. Zum Vergleich: Beim wachsenden Apfelanbau waren es gut 16 Millionen.
Helwig Schwartau ist Fachmann für den Obsthandel bei der Ami, der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft. Er sagt zur Sauerkirsche: „Ganz Westeuropa hat sich aus dem Markt praktisch verabschiedet.“ Diese Saison habe die Sauerkirsche aus deutscher Perspektive aufs Neue einen Tiefpunkt erreicht: Nur 15 bis 20 Cent pro Kilogramm habe der Handel im Schnitt gezahlt. „50 bis 60 Cent müssten es schon sein“, sagt der Marktexperte.
Hauptgrund für das Aussterben der Sauerkirsche sei die Besonderheit des Handelsstroms. Fast 100 Prozent sind Schwartau zufolge sogenannte Verarbeitungsware für Konserven, Tiefkühlung oder Säfte. Der Verkauf als Frischobst auf Wochenmärkten oder beim Bauern spiele praktisch keine Rolle. Und so sieht Schwartau die 18 000 Bäume in Niedersachsen auch nur in einer Nische für die unbedeutende Direktvermarktung. „Ich glaube nicht, dass davon überhaupt etwas außerhalb Niedersachsens verkauft wird.“
Die Sauerkirsche spiele in Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen eine noch kleinere Rolle. „Das wird aber von Jahr zu Jahr weniger“, sagt Schwartau. Die deutsche Sauerkirschenernte stelle selbst mit weiteren kerneuropäischen Anbauländern wie Dänemark und Belgien nur noch einen Bruchteil der europaweiten Jahresmengen. Marktführer Polen komme auf bis zu 200 000 Tonnen Sauerkirschen, Serbien folge mit bis zu 90 000 Tonnen, Ungarn mit etwas weniger. Auch die Türkei sei für Europas Sauerkirschenmarkt ein zentraler Lieferant mit bis zu 180 000 Tonnen Jahresmenge. Neben klimatischen Gründen gibt es dafür eine recht einfache Erklärung: niedrigere Arbeitskosten.
Früher wurde der Kirschenanbau in Europa subventioniert. „Es gab einmal einen regelrechten Boom“, erklärt Rolf Stehr von der Obstbauversuchsanstalt Jork im Landkreis Stade. Die „Zeit“ widmete dem Thema 1984, also vor 30 Jahren, einige Zeilen. Darin war die Rede von 80 Pfennigen Subvention pro Kilogramm für bestimmte Sorten, etwa Schattenmorellen. Das Preisniveau sei damals so auskömmlich gewesen, dass etliche Bauern hierzulande in Sauerkirschen investierten.
Die Sauerkirsche ist damit auch ein Beispiel für den Strukturwandel in Europas teils subventions- und quotengesteuertem Agrargeschäft. Beim Zucker etwa steht 2017 eine große Reform an, die die Branche schon heute spürt. Und vielleicht wird sich die Zuckerrübenlandschaft in Europa einmal ähnlich stark verändern wie die Sauerkirschenwelt.
Der Anbau von Äpfeln und Birnen hat in Norddeutschland übrigens viel Zuwachs. Selbes gilt für die Süßkirsche. Sie ist zu rund 90 Prozent Frischobst statt Verarbeitungsware - genau umgekehrt zur Sauerkirsche also. „Entsprechend wird bei ihr Handarbeit noch anders honoriert“, sagt Ami-Fachmann Schwartau.
Übrigens: Das Lindgren-Zitat geht noch weiter. Die Kinder aus Bullerbü hätten nach der Kirschenzeit eine kleine Pause beim Bauchweh, „bis die Pflaumen reif sind“. Und denen geht es noch gut, auch hierzulande. Die Zahl der kommerziellen Pflaumenbäume hat sich in Niedersachsen seit 1992 verdoppelt.