Gegen das Vergessen: Warum Demenzkranke Geschichten brauchen

Karlsruhe (dpa) - Klagen hilft nicht. Wer Demenzkranke mit Kindheitserinnerungen konfrontiert, kann schöne Momente erleben - für beide Seiten. Immer mehr Verlage stützen das mit Kurzgeschichten und viel Musik.

Foto: dpa

Sogar der Name ist weg. Vieles andere auch. Man sitzt nebeneinander. Schweigt. Annette Röser kennt das. Ihre beiden Eltern waren dement, Unterhaltungen wurden immer schwieriger. Einen Schlüssel zur verborgenen Welt ihrer Eltern fand sie in der Musik. Melodien weckten Erinnerungen an die Kindheit. Hörten sie gemeinsam alte Volkslieder oder auch „Memories Of Heidelberg“, leuchteten die Augen ihrer Mutter nochmal auf. „Damit erlebten wir unsere schönsten Momente.“ Inzwischen sind ihre Eltern tot. Annette Röser aber baute auf ihren Erfahrungen den Karlsruher Singliesel-Verlag auf - spezialisiert auf Bücher für Demenzkranke.

Die Mitsing- und Erlebnisbuchreihe „ Singliesel“ will Angehörigen helfen, wieder eine Brücke zu ihren Eltern oder Großeltern zu finden, statt wie so oft irgendwie hilflos nebeneinanderzusitzen. Jeweils drei bekannte Volkslieder lassen sich per Knopfdruck abspielen. „Es gibt Menschen, die wissen Namen nicht mehr“, sagt Röser, „aber "Der Mond ist aufgegangen" ist noch in allen Strophen in der Seele verankert.“ Die Musik sei in den Gedanken oft noch am längsten erhalten geblieben, „auch wenn andere Dinge verloren gegangen sind“.

Ein anderer Verlag, der sich auf solche Bücher spezialisiert hat, ist der Verlag an der Ruhr (Mülheim) mit seinen „5-Minuten-Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz“. Verloren geglaubte Erinnerungen wachzurufen, ist auch hier das Hauptziel, sagt Hans-Jürgen Freter, Sprecher der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Berlin. Sowohl Lieder als auch Bilder seien dabei der Schlüssel. Das Angebot wachse permanent. Die Zahl der Demenzkranken in Deutschland wird inzwischen auf 1,5 Millionen geschätzt. Zum Vergleich: Bundesweit gibt es etwa 1,9 Millionen Kindern unter drei Jahren.

„Menschen mit beginnender Demenz können Texte meist noch gut lesen“, sagt Freter. Mit dem Fortschreiten der Krankheit werde es aber schwieriger. Der Ernst Reinhardt Verlag München baut auf Vorlesebücher wie „ Ein Fahrrad erzählt“ oder „Ein Koffer voller Erinnerungen“ mit gut 50 kurzen Geschichten, zusammengestellt vom psychologischen Berater Peter Krallmann und Uta Kottmann, die als Gutachterin bei neurologisch erkrankten Patienten tätig ist. Im Mittelpunkt der maximal fünf Minuten langen Geschichten stehe die Zuwendung, die Gemeinsamkeit von Betroffenen und Angehörigen, erklärt Sprecherin Franziska Rescher.

Episoden aus dem Berufsleben, über Hobbys und Reisen sollen das Langzeitgedächtnis der erkrankten Zuhörer wecken - für wertvolle Stunden etwa mit ihren Angehörigen. Die Nachfrage steige, so Rescher, weitere Bücher seien in Vorbereitung.

Der Einband der „Singliesel“ gleicht einer Schulfibel der 40er Jahre. Und auch die Illustrationen drinnen erinnern an damals. Statt viel Text gibt es Zeichnungen wie in Kinderbüchern aus der Jugendzeit der Generation 75 plus. Das schwarze Telefon mit Wählscheibe ist wieder da, ein Zeppelin und auch der klassische Brief statt der Mail.

Auch Elemente zum Anfassen seien wichtig, sagt Annette Röser. Jeder Band enthält Fühl- und Klappelemente. Läuft „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“, können die Demenzkranken an einem Mühlrad drehen. Stets in der Hoffnung für beide Seiten, dass die Erinnerungen zurückkehren. Wissenschaftlich unterstützen lässt sich der Karlsruher Verlag von einem Experten-Beirat, dem etwa eine Gerontologin, eine Fachärztin für Psychotherapie, eine Pflegedienstleiterin, eine Fachärztin für Neurologie und eine Musiktherapeutin angehören. Röser zitiert gerne den Dirigenten Daniel Barenboim: „Musik ist etwas, das uns hilft, die Welt zu vergessen, und Musik ist etwas, wodurch wir die Welt verstehen können.“