Gesundheitsforscher: „Wir müssen Dementisch lernen“
Greifswald (dpa) - Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, stellt sich die Frage wie er betreut werden soll. Das bestehende Gesundheitssystem ist auf die Betreuung von zunehmend mehr Menschen mit Demenz nicht vorbereitet, meint ein Gesundheitsforscher.
In Deutschland leiden nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rund 1,47 Millionen Menschen unter Demenz. Die Zahl wird sich Schätzungen zufolge bis 2050 verdoppeln. Die meisten Demenzkranken werden zu Hause betreut. Den pflegenden Angehörigen müsse größere Aufmerksamkeit gewidmet werden, sagt der Greifswalder Gesundheitsforscher Wolfgang Hoffmann anlässlich des Welt-Alzheimertags (21. September).
Kann das bestehende Gesundheitssystem in Deutschland die Betreuung von künftig bis zu drei Millionen hilfsbedürftigen Menschen leisten?
Wolfgang Hoffmann: Auf die jahrelange Betreuung von Menschen, die an Demenz leiden, ist das Gesundheitssystem in Deutschland bislang nicht vorbereitet. Der Betreuungsaspekt für die an der unheilbaren Krankheit leidenden Menschen wird unterschätzt. Wir müssen sehen, dass es ein belastbares und stabiles Netz an Betreuungsmöglichkeiten gibt. Das betrifft das häusliche Umfeld, Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste, aber auch die Ergotherapie, Physiotherapie, den Hausarzt und den Apotheker. Diese netzwerkartige, regionale Versorgungsstruktur ist im Gesundheitssystem in Deutschland bislang nicht gut abgebildet. Auf die Gesellschaft kommt eine große Herausforderung zu. Wir müssen Dementisch lernen.
Die meisten Menschen mit Demenz werden zu Hause von Angehörigen betreut?
Hoffmann: Ja, das ist auch richtig so. Die Betroffenen wollen es, und auch die Angehörigen, die sie lieben. Es ist auch aus medizinischer Sicht wichtig, dass Menschen mit Demenz in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Es gibt oftmals Komplikationen und Verschlechterungen des Krankheitsbildes, wenn sie aus ihrem vertrauten Umfeld herausgenommen werden. Auch aus gesundheitsökonomischen Gründen ist die häusliche Pflege sinnvoll. Ein Vollzeitplatz in einem Pflegeheim ist deutlich teurer. Es fehlen Pflegekräfte. Es geht uns aber nicht darum, eine Einweisung ins Pflegeheim zu verhindern. In bestimmten Fällen ist sie genau die richtige Lösung.
Sie untersuchen in einer Studie die Versorgungsmechanismen für Menschen mit Demenz in der häuslichen Pflege. Wann ist ein Betroffener eigentlich gut versorgt?
Hoffmann: Zunächst benötigt der Betroffene eine sorgfältige Untersuchung und eine belastbare Differenzialagnose, dann eine vernünftige Medikation. In aller Regel haben die Betroffenen gleichzeitig andere Erkrankungen, die ebenfalls behandelt werden müssen. Diese Medikamente können mit den Medikamenten gegen Demenz interagieren. Dann ist entscheidend: Wie geht es dem oder den pflegenden Angehörigen? Benötigt er Hilfe und welche? Gibt es ein stabiles soziales Umfeld? Auch sozialrechtliche Aspekte wie die Klärung der Pflegestufe oder die Frage, wer die Kosten für den Wohnungsumbau übernimmt, müssen geklärt sein.
Der Angehörige nimmt bei der häuslichen Betreuung die Schlüsselrolle ein. Wie kann er unterstützt werden?
Wir müssen dem Angehörigen größere Aufmerksamkeit widmen, ohne seine Unterstützung funktioniert die häusliche Betreuung von Menschen mit Demenz nicht. Brechen diese Strukturen weg, bleibt oftmals nur die Einweisung in ein spezialisiertes Pflegeheim. Im Interesse des Betroffenen und des Angehörigen ist es entscheidend, die Situation zu Hause so lange wie möglich zu stabilisieren. Wir müssen frühzeitig erkennen, ob und wann der Angehörige nach Rundum-Pflege an seine Grenzen kommt, um zügig Unterstützungsstrukturen zu etablieren. Die pflegenden Angehörigen verschweigen oft ihre Belastungen, weil es ihnen peinlich ist und unangemessen erscheint, darüber zu reden.