Kein Fall für den Schaukelstuhl
Das typische Bild von Senioren ist, dass sie gebrechlich sind und Hilfe brauchen – doch meist stimmt das nicht.
Berlin. Die ältere Frau steigt in den Bus, und eine jüngere bietet ihr den Platz an, ein seltener Fall. Ein Rentner blickt konzentriert auf die Anzeige des Fahrkartenautomaten, und gleich fragt ein Wartender, ob er helfen kann. Beides ist höflich und nett gemeint, spiegelt aber ein typisches Bild vom Alter wieder: Senioren sind gebrechlich und brauchen oft Hilfe. Doch dieses Altersstereotyp stimmt meist nicht. Denn die Menschen werden nicht nur älter, sie bleiben auch länger fit.
Eine typische Gesprächssituation zwischen Älteren und Jüngeren, die sich nicht kennen, läuft so ab: "Ich bin 85 Jahre alt", sagt die eine. "Sie sind aber fit, sie sehen gar nicht so aus", antwortet die andere. "Das ist ein typisches Muster in der Kommunikation", erklärt Judith Rossow vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) in Berlin.
Für manche sei das Small-Talk. Andere wollten indirekt prüfen, welches Altersbild der Gesprächspartner hat. Sieht er Alte - und damit einen selbst - kritisch? Will er das Gespräch deshalb in die Hand nehmen, weil er das einem Älteren nicht zutraut? "Auf diese Weise lässt sich das Fremdbild aber kaum überprüfen, da auf die Altersangabe quasi automatisch das Kompliment erfolgt", erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin. Ein solcher Dialog trage nicht zur Klärung bei, er vergrößere sogar Unsicherheiten.
Dieses Gesprächsmuster hat noch eine andere, wenig beachtete Folge: Es erneuert ein typisches Altersvorurteil: Generell sind alte Menschen gebrechlich und sehen nicht mehr gut aus. Der Gesprächspartner ist die Ausnahme, denn bei ihm ist es anders.
Außerdem kann der sofortige Hinweis auf das Alter das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken: Er signalisiert, dass es für die Person eine Rolle spielt, es bleibt nur unklar, in welcher Weise, erklärt Rossow. Doch wie soll der andere damit umgehen? Soll er im weiteren Gespräch Rücksicht nehmen?
Tatsächlich sprechen Jüngere mit Älteren anders als mit ihresgleichen, sagt Anne-Kathrin Mayer, Entwicklungspsychologin an der Uni Trier. Die Sätze würden kürzer, und es würden einfachere Worte gewählt, die Gesprächsthemen seien persönlicher, der Sprecher falle in eine Art Singsang, ähnlich der Babysprache. Gleichberechtigte Kommunikation läuft anders ab.
Das Bild vom geistig und körperlich beeinträchtigten Älteren prägt das Handeln auch in anderen Situationen: "Wenn ein älterer Mann länger am Fahrkartenautomaten braucht, ist der Reflex, ihm sofort zu helfen", sagt Mayer. Steht dort ein 40-jähriger Geschäftsmann, der sich orientieren muss, warten die anderen meist geduldig. Ist es tatsächlich angemessen, dem Älteren sofort ungefragt zu helfen? "In der Regel nicht, man macht ihn dadurch unselbstständig", sagt Mayer.
Folgt daraus, dass gesellschaftlich verankerte Höflichkeitsregeln - etwa, einem Älteren den Platz im Bus anzubieten - außer Kraft sind? "Im Privatleben hat sich an diesen Regeln nichts geändert", erklärt Imme Vogelsang, Etikette-Trainerin. Dazu gehöre, Älteren mit Respekt zu begegnen, ihnen die Tür aufzuhalten und den Stuhl zurechtzurücken. "Die Hilfe soll nicht ausdrücken, dass jemand gebrechlich ist, sondern man ist höflich."
Allerdings ist nach Ansicht der Expertinnen auf beiden Seiten Fingerspitzengefühl gefragt. Sieht der andere tatsächlich so aus, als ob er Hilfe benötigt? "Nicht das Alter sollte das Kriterium sein, sondern die körperliche Verfassung des anderen - ein Hilfsangebot kann auch bei Jüngeren angemessen sein", sagt Rossow. "Ich würde ganz freundlich nachfragen", rät Vogelsang. Wird ein Hilfsangebot gemacht, sollte der Angesprochene es nicht einfach abbügeln - selbst wenn er sich weder alt noch hilfsbedürftig fühlt. "Wenn Sie das brüsk ablehnen, stoßen Sie den anderen vor den Kopf."
Lächeln, sich bedanken und den angebotenen Platz annehmen: "Da muss man keinen falschen Ehrgeiz haben", findet Vogelsang. Wer das nicht möchte, könne aber darauf hinweisen, dass er gleich aussteigen muss oder das Kind mit dem Ranzen den Platz viel nötiger braucht.
Wer aber meint, aufgrund seines Alters bestimmte Rechte einfordern zu können, bewegt sich auf dünnem Eis. Geht eine agile Frau mit der Begründung an der Schlange vorbei zur Kasse, dass sie schon 70 ist, wird sie wohl keiner aufhalten. "Man sollte sich das aber gut überlegen, denn so ein Verhalten hat seinen Preis", sagt Mayer. Dadurch werde das Stereotyp vom hilfsbedürftigen Alten verstärkt.
Auch den Hinweis auf das Alter im Gespräch schenken sich Ältere besser, möchten sie, dass der andere sich möglichst normal verhält. "Das Alter sagt nämlich verschwindend wenig über die Fähigkeit einer Person aus", erklärt Mayer. Zeigt der Gesprächspartner trotzdem ein überangepasstes Verhalten, redet er etwa besonders laut, könne man höflich sagen: "Nett, dass sie sich Mühe geben. Aber ich höre gut."