Training statt Medikamente
Wer im Alter gezielt Kraft und Gleichgewicht trainiert sowie die Wohnung anpasst, kann gefährliche Stürze vermeiden.
Düsseldorf. Ja, es wird Probleme geben. Einschränkungen. Der Fernseher auf Stadionlautstärke, die Klingel nicht gehört, der Einkauf zu schwer, die grüne Ampel nicht geschafft. Ausflüge ohne Toilettengang unmöglich. Die Treppe mühsam, der Badewannenrand unüberwindbar. Auf einmal ist man alt. Alter sei nichts für Schwächlinge, hat Bette Midler gesagt. Recht hat sie, meint Clemens Becker, Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie.
Seine gute Nachricht: Man kann heute viel dagegen tun. Stürze wurden bis vor kurzem noch als unabwendbares Schicksal betrachtet, Vorbeugung oder Reha schienen nicht möglich. Wie die Zeitschrift "test" der Stiftung Warentest in ihrer aktuellen März-Ausgabe berichtet, ist heute wissenschaftlich bewiesen, dass mindestens ein Drittel, teilweise die Hälfte aller Stürze durch Vorbeugung verhindert werden kann. Dafür braucht man keine Medikamente oder Hormone, sondern vor allem Training an Körper und Geist.
Experten empfehlen spezielles Kraft- und Gleichgewichtstraining. Dafür gibt es Kurse bei Sportvereinen, Krankenkassen oder beim Deutschen Roten Kreuz. Wichtig sind zudem - in Absprache mit dem Arzt - die Überprüfung der Medikamente, vor allem Reduzierung oder Absetzen von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln, das Überprüfen der Sehkraft und das Beseitigen von Stolperfallen in der Wohnung.
Doch wer stürzt eigentlich? Betroffene streiten das meist ab, sie sind höchstens gestolpert oder gefallen. Dabei stürzt laut Statistik jeder dritte aller über 65-Jährigen mindestens einmal im Jahr, ab einem Alter von 80 Jahren sogar jeder zweite einmal im Jahr. Die Gründe liegen in nachlassender Sehkraft, schwindender Muskelkraft oder in Gleichgewichtsstörungen, die oft durch Medikamente verursacht werden.
Kaum einer will sich das eingestehen - auf einmal alt zu sein, gebrechlich. "Dabei ist es wichtig, darüber zu sprechen", sagt Clemens Becker, Chefarzt des Robert-Bosch-Krankenhauses für Geriatrische Rehabilitation in Stuttgart. "Alter an sich ist keine Krankheit und keine Schande. Jeder kann aktiv werden, um möglichst lange beweglich zu bleiben. Auch mit 80ist es dafür nicht zu spät."
Becker empfiehlt Muskel- und Gleichgewichtstraining ab einem Alter von 75 Jahren, und zwar mehrmals pro Woche. Wer merkt, dass Alltägliches schwer fällt, sollte nicht den Schongang einlegen: Denn nicht allein durch das Altern, sondern durch passiven Lebensstil verliert ein Erwachsener bis zum 80. Lebensjahr fast die Hälfte seiner Muskelmasse.
Ewald Hennig, Professor für Biomechanik und Bewegungslehre an der Universität Duisburg-Essen, rät, Gleichgewichtsübungen schon mit 40 oder 50 Jahren täglich in den Alltag einzubauen. "Nur regelmäßige Bewegung hilft, den Abbau der Körperfunktionen zu verlangsamen."
Andererseits dürfe man sich ruhig helfen lassen, sagt Ellen Freiberger, Leiterin des Forschungsprojektes "Standfest im Alter" am Institut für Sportwissenschaft und Sport der Universität Erlangen-Nürnberg: Bei Haus- und Gartenarbeit, beim Gardinenwaschen, Rasenmähen.
Wichtig ist die Rolle des Hausarztes. Ihm sollten sich Betroffene anvertrauen, er sollte aber auch selbst nachfragen, ob Patienten über 70 in den letzten Wochen gestürzt sind, ob sie schlechter gehen, sehen oder hören. Mediziner fragten von sich aus zu selten nach dem Sturzrisiko, klagt Prof. Ingo Füsgen, Ärztlicher Direktor der Geriatrischen Kliniken St.Antonius in Wuppertal und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie.
Wer vor den Gebrechlichkeiten des Alters die Augen verschließt, kann in einen Teufelskreis geraten, warnt Clemens Becker: "Nach einem Sturz ziehen viele Menschen sich zurück. Das verschlimmert aber die Unsicherheit und beschleunigt den Muskelabbau. Die Folge sind meist weitere Stürze."