Kunstbegriff „Nano“ - Weder Fluch noch Wundertechnik
Berlin (dpa) - Für Nanopartikel in Lebensmitteln gibt es künftig eine Pflicht zur Kennzeichnung auf der Zutatenliste. Bei Kosmetika existiert sie bereits. Was „Nano“ sei, sei nicht automatisch riskant, betonen Experten.
Vorsicht ist aber sehr wohl geboten.
Auf der Zutatenliste mancher Lebensmittel steht künftig der Begriff „Nano“. „Ab 13. Dezember gilt die neue Lebensmittelinformationsverordnung der EU“, sagt Ralf Greiner vom Max Rubner-Institut (MRI) in Karlsruhe. „Alle technisch hergestellten Nanomaterialien müssen dann auf der Zutatenliste mit dem Zusatz „Nano“ kenntlich gemacht werden.“ Der Begriff soll in Klammern hinter der jeweiligen Substanz stehen.
Ein Nanometer ist ein Millionstel Millimeter. Als „Nano“ werden von der EU Partikel mit weniger als 100 Nanometern Durchmesser eingestuft. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar kommt auf etwa 80 000 Nanometer, Viren auf 50 bis 100 Nanometer.
Viele Lebensmittel wie Instant-Suppen, Salz, Kaffeeweißer enthalten zum Beispiel Partikel aus Siliziumdioxid, damit sie nicht verklumpen. Winzige Titandioxidkrümel lassen Kaugummis, Dragees und Joghurt-Dressings weiß strahlen. Sowohl beim Silizium- als auch beim Titandioxid seien die Partikel zwar im Allgemeinen größer als 100 Nanometer, erklärt Greiner. Es sei aber nicht auszuschließen, dass ein gewisser Anteil kleiner sei. Die Einstufung als „Nano“ gelte auch dann, wenn nur ein Teil der Substanz die Größendefinition erfülle. Die Lebensmittel müssten dann entsprechend deklariert werden.
Wahrscheinlich werde die Industrie aus Furcht vor der Verbraucherreaktion aber vorerst auf Zutaten verzichten, die als Nanomaterialien im Sinne der Verordnung definiert werden könnten, nimmt Greiner an. Gezielt hergestellte Nanomaterialien spielten im Lebensmittelbereich noch keine große Rolle, ergänzt der Leiter des Instituts für Lebensmittel- und Bioverfahrenstechnik des MRI, dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel. Das habe aus seiner Sicht vor allem zwei Gründe: „Unklare gesetzliche Regelungen und die Furcht, dass der Verbraucher das negativ bewertet.“
Weltweit gesehen stelle zurzeit der Verpackungssektor den Hauptteil der Anwendungen von Nanomaterialien im Lebensmittelsektor, sagt Greiner. In der EU seien in dem Bereich bisher nur Siliziumdioxid (als Nanobeschichtung auf der inneren Oberfläche von PET) und Titannitrid (zur Verbesserung der Verarbeitbarkeit) als Nanomaterial für Verpackungsmaterialien zugelassen.
Künftig seien Lebensmittel denkbar, in denen empfindliche Substanzen in Nanopartikel eingekapselt sind. „Damit können hitzelabile Stoffe wie Vitamine geschützt oder auch die Verfügbarkeit für den Körper erhöht werden“, erklärt Greiner. Substanzen ließen sich in Nanokäfigen unbeschadet durch den Magen bringen. Allerdings werde „Nano“ in Deutschland derzeit eher als Warnhinweis denn als Information verstanden.
Dabei können Nanopartikel weder pauschal als Wundermittel noch als Gefahr eingestuft werden - viel zu groß sind ihre Vielfalt und die damit verbundenen Eigenschaften. „Was haben ein Schlagbohrer, ein Kochtopf und ein Gartenzwerg gemeinsam?“, fragt der Physiker Christian Meier in seinem Buch „Nano“. „Praktisch nichts, außer dass sie etwa 20 bis 40 Zentimeter groß sind.“ Niemand komme auf die Idee, Objekte dieser Größe als „Zentimetertechnologie“ zusammenzufassen. Bei der Nanotechnologie aber sei es zu dieser „Verrücktheit“ gekommen.
„Das Marktvolumen von auf Nanotechnologie basierenden Produkten wird voraussichtlich von 200 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf zwei Billionen Euro im Jahr 2015 steigen“, nennt der Verband der Chemischen Industrie (VCI) eine Schätzung. Elektronische Bauteile, Leuchtdioden, Bildschirme, Farben, Füllstoffe für Kunststoffe - die Liste der Anwendungsgebiete sei lang, sagt Kathrin Schwirn vom Umweltbundesamt (Uba) in Dessau.
Konkrete Zahlen allerdings fehlen. „Ein Register für Nano-Produkte gibt es in Deutschland nicht“, sagt Andrea Haase vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin. Eine Labeling-Pflicht besteht bisher nur bei Kosmetika.
Für viele Substanzen im Nano-Maßstab ist nicht bekannt, wie sie sich auf den Menschen oder die Umwelt auswirken werden. Toxikologische Studien gebe es zwar, ihre Ergebnisse seien aber oft sehr widersprüchlich, erklärt Haase. Schon kleine Veränderungen der Testparameter könnten bei Analysen in Zellkulturen völlig neue Wirkungen hervorrufen. „Sind die Partikel 20 statt 10 Nanometer groß, braucht man schon einen neuen Test“, sagt Haase.
Für Lebewesen spielt eine große Rolle, dass Nanopartikel Barrieren durchdringen, die von der Natur dafür konzipiert wurden, nichts unkontrolliert durchzulassen: die Darmwand zum Beispiel und die Blut-Hirn-Schranke, die die Nervenzellen vor im Blut zirkulierenden Viren, Bakterien und Giften schützt - aber auch verhindert, dass Medikamente ins Hirn gelangen können.
Studien an Tieren hätten gezeigt, dass die Haut wohl eine verlässliche Barriere für die bisher eingesetzten Partikel sei, sagt Haase. Kritisch sei nach derzeitiger Studienlage vor allem das Einatmen von Nanopartikeln zu sehen. „Sie gelangten im Tierversuch nicht nur in die Lunge, sondern über den Riechnerv auch direkt ins Gehirn“, erklärt die BfR-Expertin. Eingeatmete Partikel kamen ebenfalls im Tierversuch zudem in Milz, Niere, Leber und Hoden vor.
„Es wird zwar nur ein kleiner Prozentsatz in der Lunge abgelagert und noch weitaus weniger in andere Organe weitertransportiert“, betont Haase. „Aber wir wissen nicht: Was passiert dann?“ Von Treibgas-Sprays mit Nanopartikeln sei auf jeden Fall abzuraten, so Haases Fazit. Verboten seien sie allerdings nicht. „Die Verantwortung über die Produktsicherheit liegt beim Hersteller.“
Literatur:
Christian Meier: Nano - Wie winzige Technik unser Leben verändert. Primus Verlag, Darmstadt, 2014, 224 Seiten, 24,95 Euro, ISBN-13: 978-3-86312-036-8