Lebenshilfe: Das Internet wird zur Couch
Immer mehr Menschen nutzen das Netz für psychologische Beratungen. Im Ausland zahlen die Kassen solche Online-Therapien. Deutsche Experten reagieren bislang skeptisch.
Düsseldorf. Sie sprechen über Erfahrungen, die sie nicht einmal engsten Vertrauten erzählen würden. Über erlittene Schmerzen oder Alpträume, die sie nach all den Jahren immer noch einholen - und über die Scham, das alles zu offenbaren.
Ihnen gegenüber sitzt kein Therapeut, nicht mal ein Seelsorger. Da ist nur ein Computer, auf dessen Bildschirm eine Website flimmert, die sich "lebenstagebuch.de" nennt. Hier schreiben sie sich die Seele vom Leib, verfassen Texte, in denen sie die aufwühlenden Erfahrungen zu verarbeiten versuchen.
Die Seite, die ihr Angebot als "Schreibtherapie" bezeichnet, richtet sich an alte Menschen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Damals haben sie traumatisierende Ereignisse durchgemacht - Folter und brutale Gewalt. Auf der Website wollen sie die inneren Dämonen loswerden.
Eine 85-jährige Frau erzählt: "Seit 60 Jahren schlafe ich nicht mehr. Jede Nacht wache ich schweißgebadet auf." Im Chaos der Kriegstage war sie mehrmals vergewaltigt worden - eine Erfahrung, die sie nie abschütteln konnte. Niemandem, schreibt sie, hätte sie diese Geschichte erzählen können.
Die Seite "lebenstagebuch.de" ist ein Beispiel für einen neuen Trend im Internet: die virtuelle Psychotherapie. Sie ist kein Einzelfall: Die niederländische Website "interapy.nl" hilft Burn-Out-Geplagten oder Schwermütigen, "theratalk.de" richtet sich an zerstrittene Paare und "virtualtraumacenter.org" kümmert sich um kriegstraumatisierte Iraker.
Dass im 21. Jahrhundert das Netz zur Couch wird, ist nichts Neues. In Internet-Foren verraten Menschen ihre intimsten Geheimnisse, in Chats päppeln sich fremde User gegenseitig psychologisch auf. Und dennoch sind die neuen Portale anders.
Im Gegensatz zum hemmungslosen Seelenstriptease des Web 2.0 gibt es hier eine professionelle Moderation: Seriöse Psychologen-Teams betreuen die Seiten, kommunizieren per Mail mit den Usern, geben Denkanstöße und Anregungen - und das in einem geschützten Raum, zu dem nur die Patienten Zugang haben.
Die Macher von "lebenstagebuch.de" etwa sind Mitarbeiter des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin sowie der Psychiater Philipp Kuwert von der Uni Greifswald. Ihre Website ist Teil einer Studie, mit der sie die Wirksamkeit der Online-Therapie vorführen wollen. Dementsprechend ist "lebenstagebuch.de" kein kommerzielles Angebot und daher auch kostenlos.
Christine Knaevelsrud, für"lebenstagebuch.de" mitverantwortlich, glaubt: "Unser Angebot wird besonders von Senioren aus strukturschwachen Gegenden genutzt, wo es nur wenige Psychotherapeuten gibt." Generell würden User die Anonymität schätzen. Im virtuellen Sprechzimmer gibt es keine peinlichen Blickkontakte.
Ebenfalls zu einer wissenschaftlichen Studie aus Deutschland gehört "virtual-traumacenter.org". Die irakischen Menschen, die hier Horrorbilder von Bombenexplosionen oder Entführungen verarbeiten wollen, nehmen das kostenlose Angebot dankbar an. Kein Wunder, leben sie doch in einem Land, das kaum psychotherapeutische Einrichtungen kennt und dessen patriarchalische Mentalität das Eingeständnis von Ängsten gegenüber anderen mühselig macht.
Dass Angebote aus Deutschland so oft Bestandteil wissenschaftlicher Studien und Projekte sind, hat einen Grund: Noch ist es herkömmlichen Therapie-Praxen gesetzlich verboten, Patienten ausschließlich via Telefon oder Internet zu behandeln. Gesetzgeber und Wissenschaftler sind sich noch uneins darüber, was sie von Online-Therapien halten sollen. In den USA, Australien, den Niederlanden oder Schweden ist die rechtliche Lage liberaler. Die Gebühren übernehmen die Krankenkassen.
Christiane Eichenberg, Expertin für Internetpsychologie an der Kölner Uni, gibt sich trotz der Erfolge skeptisch. "Tiefliegende Probleme können so nicht gelöst werden." Eichenberger sieht das Angebot eher als Türöffner: "Dank Online-Therapien haben Menschen die Möglichkeit, sich erstmals ihres Problems bewusst zu werden. Dadurch sinkt auch die Hemmschwelle, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen."
So gilt für Online-Therapien das, was generell den größten Reiz des Internet ausmacht: Die Unpersönlichkeit des virtuellen Raums ermutigt Verschlossene, das Innerste nach außen kehren.