Lügen gehört zum Leben

Lügenforscher Jörg Meibauer ist der Täuschung auf der Spur.

Mainz. Lügen ist eine Kunst, die gelernt sein will — dieser Ansicht ist der Mainzer Sprachwissenschaftler Jörg Meibauer. „Man muss geschickt sein, sich in andere hineinversetzen können“, sagt er. Das Lügen sei aber ganz natürlich. „Es gehört zu unserem Bedürfnis zu kommunizieren und ist schon in der Sprache angelegt.“ Das bedeute aber nicht, dass es immer gut sei zu lügen. Bis zu einem gewissen Grad könne man auch schon an der Sprache erkennen, wenn jemand lüge, sagte der Forscher.

Herr Meibauer, Sie erforschen das Lügen aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Was ist denn eine Lüge?

Jörg Meibauer: Viele Leute glauben ja, Lügen hieße, die Unwahrheit sagen. Das stimmt aber nicht immer. Ein Beispiel: Barbie sagt Ken, sie habe einen Herzklappenfehler, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. Am nächsten Tag geht sie zum Arzt und — Ironie des Schicksals — erfährt, dass sie wirklich einen Herzfehler hat. Was sie gesagt hat, stimmt also. Trotzdem hat sie Ken gegenüber gelogen, weil sie selbst an die Falschheit ihrer Aussage glaubte.

Welche Arten zu lügen gibt es noch?

Meibauer: Es gibt zum Beispiel die „bald-faced lie“, also jemandem direkt ins Gesicht lügen. Ein Beispiel: Don Draper aus der Serie „Mad Men“ kommt morgens etwas ramponiert nach Hause. Seine Frau fragt ihn: „Wo warst du, Don?“ Und er sagt, er sei die ganze Nacht in der Agentur gewesen. Obwohl er genau weiß, sie glaubt ihm kein Wort. Es gibt in diesem Fall also gar keine Täuschungsabsicht, weil beiden Seiten bekannt ist, dass Don nicht die Wahrheit sagt.

Gibt es bestimmte Eigenschaften, die gute Lügner haben müssen?

Meibauer: Man muss geschickt sein, sich in andere hineinversetzen können. Sie müssen das Lügengebäude aufrechterhalten und vor allem konsistent lügen. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass Lügen eine furchtbar komplizierte Sache ist: Lügner müssen beim Erzählen zurückschauen - was habe ich vorher gesagt - und gleichzeitig nach vorne schauen, um konsistent zu bleiben. Manche Leute mischen beim Lügen Wahres und Unwahres, weil es sie entlastet.

Lügen Menschen überall gleich?

Meibauer „Bescheidenheit spielt in vielen Kulturen eine große Rolle, das Gesicht wahren, lustig sein... Jetzt gibt es Leute, die sagen, das ist in China anders als hier. Da wird Bescheidenheit oder Unterhaltsamkeit anders bewertet. Ich liebäugele mit der Vorstellung, dass Menschen überall gleich sind. Lügen hat etwas mit einem bestimmten Denken zu tun. Und das ist universell. Kulturelle oder soziale Unterschiede mag es natürlich trotzdem geben.

Wie denkt denn so ein Lügner?

Meibauer: Im Bereich Psychologie interessiere ich mich für den Lügenerwerb: Wie lernen Kinder das Lügen? Wenn sie etwa vier Jahre alt sind, erlernen sie das, was man „theory of mind“ nennt. Das heißt, sie entwickeln eine eigene kleine Theorie darüber, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht. Und die ist beim Lügen wichtig. Man braucht eine Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Man muss also ein einfühlsamer Mensch sein, um gut lügen zu können?

Meibauer: Ja, sozusagen. Wenn ein Kind nicht das Lügen lernt, ist es gewissermaßen pragmatisch gestört. Lügen ist so gesehen also nichts Schlechtes. Es ist ganz natürlich. Es gehört zu unserem Bedürfnis zu kommunizieren und ist schon in der Sprache angelegt. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es immer gut ist zu lügen.

Kann man schon an der Sprache erkennen, dass jemand lügt?

Meibauer: Bis zu einem gewissen Grad ja. Dazu gibt es für das Englische bereits Untersuchungen. Sprachliche Anzeichen im Deutschen könnten zum Beispiel viele „Ähms“ oder viele Modalpartikeln wie „halt“ sein: „ich hab dann halt mal...“. Alles, was sprachlich mit Unsicherheit und Planungspausen zu tun hat.