Problem erkennen: Von der Kaufsucht loskommen
Hannover (dpa/tmn) - Sie werfen Geld zum Fenster raus, weil sie den Kick brauchen: Kaufsüchtige können nicht anders, sie müssen shoppen. In Selbsthilfegruppen und bei einer Verhaltenstherapie können sie lernen, den Zwang zu überwinden.
Peter-Josef Bürvenich hat wieder zugeschlagen. Es waren nur ganz wenige Klicks. Im Internet hat er auf Spirituosen geboten. Die Kisten mit Wein und anderem Alkohol werden sich bald zu den anderen Kisten und Kartons mit Waren im Wert von 40 000 Euro gesellen, die seine kleine Wohnung ausfüllen. Den Alkohol wird Bürvenich nie trinken. Der 55-Jährige ist kaufsüchtig. Seit Jahren versucht er, von diesem Drang wegzukommen, der ihn zu immer neuen Käufen treibt. Doch Hilfe für seine Krankheit gibt es bisher kaum, viele Betroffene sind auf sich allein gestellt.
Kaufsucht gilt nicht offiziell als Suchterkrankung. So ist nur die Abhängigkeit von einem Stoff als Sucht in der International Classification of Diseases (ICD-10) anerkannt, nicht aber eine Verhaltenssucht wie das Kaufen. Allerdings zählt sie zu den Zwangsstörungen.
Schätzungen zufolge sind fünf bis acht Prozent der Erwachsenen in Deutschland extrem kaufsuchtgefährdet. Betroffen sind Menschen aller Bevölkerungsschichten, Frauen wie Männer, eher Jüngere, aber auch Ältere. Wie hoch der Anteil der Kaufsüchtigen tatsächlich ist, darüber gebe es noch keine Zahlen, sagt Astrid Müller, Psychologin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Gefährdet ist zum Beispiel, wer immer wieder Dinge kauft, die er nicht braucht. Denn bei der Kaufsucht gehe es nicht um die Produkte, sondern um den Rausch des Kaufs. Um erneut den Kick zu bekommen, müssen Süchtige wieder kaufen.
Diesen Kick, den Außenstehende kaum nachvollziehen können, beschreibt Sieglinde Zimmer-Fiene als Orgasmus. Es sei ein Trip wie unter Drogen, ein Höhenflug, der glücklich macht, sagt die Betroffene. Der Absturz wie nach jedem Drogentrip kommt kurz darauf: Reue, Scham, Schuldgefühle, Selbsthass, Depressionen. Aber die schlechten Gefühle lassen sich mit der nächsten Kauforgie bekämpfen - auf die wieder der Absturz folgt. Oft so tief, dass viele Kaufsüchtige schon mal an Selbstmord denken.
Zimmer-Fiene rutschte zum ersten Mal ab, als ihr Mann an einem Gehirntumor starb. Damals, 1984, war sie 29 Jahre alt und allein mit zwei kleinen Kindern. Ihre Mutter sagte, da müsse sie durch. Sie wollte stark sein. Alle sollten sehen, dass es der jungen Witwe trotz allem gut geht. Sie kaufte teure Kleidung für sich und die Töchter, hatte immer gutes Konfekt für Gäste in der Wohnung, beschenkte ihre Freunde, bis es denen peinlich wurde. „Ich habe angefangen, eine heile Welt vorzuspielen“, sagt sie heute.
Diese heile Welt, die keine war, brachte Zimmer-Fiene zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes wegen Betrugs vor Gericht. Sie wurde schließlich in eine forensische Psychiatrie eingewiesen. Dort wusste keiner der Frau zu helfen, die sich immer wieder in Geschäfte getrieben fühlte und während ihrer Freigänge aufs Neue Sachen kaufte, die sie nicht bezahlen konnte.
Bürvenich wollte eigentlich 2008 einen Teeladen aufmachen. Ein Bistro sollte dazugehören, in dem die Gäste gemütlich Tee trinken, aber auch Bücher lesen und nach Second-Hand-Waren stöbern könnten. So begann er für das künftige Geschäft einzukaufen. Doch die Wirtschaftsförderung für den angehenden Unternehmer blieb aus, Depressionen und Diabetes taten ihr übriges. Den Teeladen gibt es noch immer nicht. Dafür hat er Schulden - und kauft weiter.
Bei vielen Kaufsüchtigen hat Psychologin Müller ein geringes Selbstbewusstsein beobachtet. Auch andere psychische Erkrankungen wie Depressionen und Ängste begleiten häufig die Kaufsucht. Sonst haben Kaufsüchtige kaum Gemeinsamkeiten. Sie sind reich und arm, promoviert und Hilfsarbeiter, traumatisiert oder haben unbedenkliche Biografien.
So verschieden die Ursachen für Kaufsucht sind, so sehr gleicht sich doch oft die Suche nach Hilfe. Bürvenich und Zimmer-Fiene beschlossen beide, ihre Sucht zu überwinden. Beide fanden bei Therapeuten keine Hilfe. Beide starteten eine Selbsthilfegruppe. Doch Bürvenich bleibt in Köln meistens allein, kaum jemand kommt in die Gruppe und bekennt sich zu der Sucht. Zimmer-Fiene kann sich in Hannover dagegen regelmäßig mit anderen Betroffenen treffen. Vor zwei Jahren hat sie zum letzten Mal etwas aus Suchtdruck gekauft. „Ohne die Gruppe hätte ich das nicht geschafft“, sagt sie und rät jedem Kaufsüchtigen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Helfen kann auch eine Verhaltenstherapie, wie sie in einer Studie des Universitätsklinikums Erlangen unter der Leitung von Astrid Müller vor einigen Jahren erfolgreich getestet wurde. In zwölf wöchentlichen Therapiestunden lernen die Teilnehmer, sich mit Ersatzbeschäftigungen von ihrer Sucht abzulenken. Manchem hilft dann Sport, ein anderer ruft eine Freundin an oder schaut fern.
Zimmer-Fiene hat ihr Auto verkauft, damit sie nicht mehr spontan einkaufen fahren kann. Anderen hilft es, nur noch bar zu zahlen und nicht mehr Geld mitzunehmen als für einen normalen Einkauf nötig ist. Was ihnen hilft, sollten Betroffene gemeinsam mit den Therapeuten selbst herausfinden. Und, betont Müller, „sie müssen wirklich mit der Sucht brechen wollen“.