Sprechstörung: Gegen Stottern gibt es keine Wunderpille

Berlin (dpa) - Peinlichkeiten, Niederlagen, Kränkungen: Stotternde haben nicht nur mit ihrer Stimme, sondern auch mit Reaktionen von Mitmenschen zu kämpfen. Umso mehr hoffen sie auf Therapien - zumindest bei Erwachsenen geht es dabei um Besserung, nicht um Heilung.

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Der Blick wendet sich verlegen ab, bei der ersten Chance sucht der Gesprächspartner das Weite: Stotternde Menschen stoßen im täglichen Miteinander oft auf dieselben Reaktionen. „Einige behandeln Stotterer, als wären sie minderbemittelt, manche reagieren sogar mit Gelächter oder Aggressionen“, sagt Alexander Wolff von Gudenberg, Leiter des Sprechtherapie-Instituts Parlo in Calden bei Kassel. Der Welttag des Stotterns am 22. Oktober soll für das Thema sensibilisieren.

Etwa 800 000 Menschen in Deutschland stottern dauerhaft. Die meisten Menschen wüssten wenig über die Sprechstörung, erklärt der Psychologe Johannes von Tiling. „Stottern erscheint ihnen kurios, ja zuweilen lächerlich“, schreibt er in seinem aktuellen Buch „Kognitive Verhaltenstherapie des Stotterns“. Zwar habe der Erfolg des Kinofilms „The King's Speech“ über den stotternden König George VI. die Störung für kurze Zeit ins Rampenlicht gebracht. „Doch nach wie vor gibt es in Deutschland ein großes Defizit an Wissen über das Stottern.“

Eine Ursache sei, dass Stotternde selten wortreich für ihre Belange eintreten, erklärt Martin Sommer, Vorsitzender der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS). Sie zögen sich eher komplett zurück und minimierten den Kontakt mit anderen. Auch Prominente täten sich oft schwer damit, sich als Stotterer zu outen, sagt Sommer. Marylin Monroe stotterte, Bruce Willis als Kind ebenfalls. In Deutschland ist wohl „Der Graf“, Sänger der Band Unheilig, das prominenteste Beispiel.

Stotterer sind nicht schlechter darin, beim Sprechen die passenden Wörter zu finden. Beeinträchtigt ist die Fähigkeit, die beabsichtigten Worte adäquat auszusprechen. Die Unterbrechungen werden in drei Kernsymptome unterteilt: Wiederholungen, Dehnungen von Lauten und Blockierungen. Am häufigsten stottern Kinder, wie Sommer erklärt. Bis zu elf Prozent seien es nach neueren Daten. Oft verschwindet das unflüssige Sprechen bei ihnen von selbst oder bei einer Therapie. Nur noch etwa ein Prozent der Erwachsenen stottern, rund 80 Prozent sind männlich. Bei ihnen bleibt die Störung fast immer lebenslang bestehen. „Spontanheilungen nach der Pubertät sind extrem selten.“

Auch mit Therapien lässt sich die Störung dann meist nur mindern und nicht vollständig aufheben. Dabei gibt es zwei große Richtungen: das sogenannte Fluency Shaping und die Stottermodifikation. Beim Fluency Shaping üben Betroffene ein weiches gebundenes Sprechen für eine bessere Sprechkontrolle. Bei der Stottermodifikation wird der normale Redefluss beibehalten, nur an den Hänge-Stellen wird versucht, die jeweilige Blockade mit speziellen Techniken kontrollierter aufzulösen.

Gänzlich neue Therapieformen seien in den vergangenen Jahrzehnten nicht hinzugekommen, sagt von Gudenberg, der auch die Kasseler Stottertherapie (KST) leitet, einen der führenden Anbieter in Deutschland. Die technische Entwicklung der vergangenen Jahren habe aber eine neue Variante ermöglicht: die Online-Therapie. „Damit erreichen wir auch Menschen, die sonst keine Therapie machen wollen oder können.“ Eine Zielgruppe seien Jugendliche. Zusammen mit der Techniker Krankenkasse bietet die Kasseler Stottertherapie derzeit in einem Pilotprojekt solche Therapiestunden an.

Ob die Teletherapie wirke, müsse sich erst noch zeigen, sagt Sommer. Wichtig für den langfristigen Erfolg einer Behandlung sei, dass weit mehr als flüssiges Sprechen vermittelt werde. „Eine Verhaltenstherapie verbessert das Ergebnis deutlich.“

Weil sie schon als Kind auf Abwertung und Stigmatisierung stoßen, entwickeln sich bei vielen Betroffenen übertriebene Ängste, wie von Tiling schreibt. Etwa die Hälfte der Stotternden litten an einer sozialen Phobie. Nicht nur Kontakte würden vermieden, aus Angst werde oft ein Beruf nur darum gewählt, weil er mit wenig Gesprächen verbunden sei.

Groß ist die Sehnsucht nach einem Wundermittel, einer einfachen Alternative zu den viel Ausdauer und Motivation fordernden Therapien. „Es gibt immer wieder Anbieter, die völlig unangemessene Heilsversprechen machen“, warnt Sommer. Mit einfachen Änderungen der Sprechweise lasse sich Stottern rasch vermindern und kurzfristig eine Heilung vorgaukeln. Für den Alltag seien die Methoden aber in den allermeisten Fällen ungeeignet.

Neue Ansätze könnten das Wissen um die genauen Ursachen des Stotterns liefern - doch noch ist vieles dabei unklar. Sicher ist, dass die Störung über alle Kulturen hinweg ähnlich oft und familiär gehäuft auftritt, es also eine starke genetische Komponente gibt. Studien weisen auf subtile Veränderungen der linken Hirnhälfte in der für Sprechmotorik und Hören zuständigen Region hin, wie Sommer, Neurologe an der Universität Göttingen, erläutert.

Der Charakter ist anders als lange angenommen nicht entscheidend: Stotternde Kinder sind nicht ängstlicher, verhaltensauffälliger, depressiver oder weniger intelligent als andere.

Für die Psyche und langfristige Therapieerfolge sei das wichtigste, das Gefühl der Kontrolle wiederzugewinnen, betont von Gudenberg. Auch Sommer hält es für extrem wichtig, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken - etwa in Sprech- oder Selbsthilfegruppen. „Es gibt noch keine Wunderpille, die Stottern heilen kann“, lautet sein Fazit. „Aber das Leiden am Stottern, das ist heilbar.“

Literatur:

Johannes von Tiling: Kognitive Verhaltenstherapie des Stotterns, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 2014, 95 Seiten, 49,99 Euro, ISBN-13: 978-3-17-024263-0