Strategien gegen den Stress
Experten halten wenig von Seminaren. Wichtig ist es, im Alltag einfach innezuhalten.
Düsseldorf. Yoga im Intercity Bremen-Hannover. Was darf man sich unter diesem Service der Bahn vorstellen? Sollen Pendler zwischen den Sitzen die Isomatte ausrollen und im Lotussitz gegen die verhärtete Nackenmuskulatur ankämpfen? Dabei wäre es schon Entspannung pur, wenn die schaukelnden Yogazüge, in denen Physiotherapeuten den Fahrgästen mit Schultermassagen zu Leibe rücken sollen, planmäßig im Bahnhof einrollen würden.
Tief durchatmen ist allerdings auch andernorts angesagt. Stress im Büro, Beziehungskrisen, existenzielle Nöte - Entspannungsmethoden versprechen die Lösung von allen Übeln. Wäre da nicht dieser ganze Aufwand mit den Kirschkernkissen, die man braucht, um die Meditation auch noch mit Reflexzonenmassage zu verbinden.
Stehen, sitzen, liegen - wie entspannt man eigentlich richtig? Wäre es da nicht besser, zwischen Job und allabendlichen Familientrubel noch schnell zum Tantra-Seminar zu hetzen? Wenn schon zur Ruhe kommen, dann richtig. Nur dass man bei so viel "richtig" oft das eigentliche Ziel aus den Augen verliert. "Zu meditieren bedeutet nicht, zu einer Art Zombie, zu einer Pflanze oder zu einem selbstversunkenen Nabelbeschauer zu werden. Im Gegenteil, eine irgendwie besondere Erfahrung machen zu wollen und ständig nach Fortschritten Ausschau zu halten, führt dazu, dass man sich erst recht unter Druck fühlt", glaubt Stressforscher Jon Kabat-Zinn.
Zeiten der Entspannung zum Pflichtteil eines ohnehin hektischen Alltags zu machen und sie dem üblichen Leistungsprinzip unterzuordnen - das hält der Gründer der Stress Reduction Clinic an der Universität von Massachusetts für den falschen Weg. Stattdessen gehe es darum, einfach mal innezuhalten. Und dass, so Kabat-Zinn, könne man überall tun. Beim Putzen, Treppensteigen oder Bergwandern: Für Augenblicke aus dem Alltagstrott aussteigen und im Hier und Jetzt ankommen, dass geht immer und überall.
Vom Trend zum Kloster oder von der Flucht in die Höhle im Himalaya hält der Stressexperte nichts. "Nach spätestens zehn Minuten in der Höhle würden Sie sich einsam fühlen, oder Sie würden mehr Licht haben wollen und von der Decke würde Wasser tropfen.
In einem Kloster könnten Ihnen die Lehrer nicht gefallen oder das Essen oder ihr Zimmer. Warum also nicht loslassen und sich eingestehen, dass Sie sich ebenso gut da zuhause fühlen können, wo Sie gerade sind", appelliert er dafür, in Sachen Entspannung nicht ständig nach Methoden, Orten oder dem richtigen Zeitpunkt Ausschau zu halten.
Das sieht auch Persönlichkeitscoach Thomas Hohensee so: "Hält man sich nur an angenehmen und stressfreien Plätzen auf, kann man sich leicht einbilden, super gelassen zu sein. Es hat keinen Sinn, Entspannung auf verbissene Art und Weise anzustreben". Stattdessen biete das Alltagsleben unzählige Gelegenheiten, Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst zu üben. Ob beim Öffnen der Haustür oder auf dem Weg zum Kühlschrank: Man kann die Aktivität verlangsamen, innehalten und im Augenblick ankommen. Im Zweifel auch im Yogazug der Bahn.