Chiloé in Chile Insel am Ende der Welt: Wo der Fährmann die Seelen abholt

Castro · Chiloé im Süden Chiles schlummert am Rande des Weltgeschehens. Damit der Archipel authentisch bleibt, engagieren sich viele Einheimische für den Erhalt der einzigartigen Kultur und Holzarchitektur.

Insel am Ende der Welt: Wo der Fährmann die Seelen abholt
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Castro/Chiloé - Die Reise ans Ende der Welt führt durch einen versunkenen Wald. Über holprige Straßen geht es zunächst durch menschenleere Dörfer mit schindelgedeckten Holzhäusern. Und dann weiter auf dem Wasser. Kaum ein Wort verliert der Bootsmann, als er seinen Kahn auf dem Fluss Chepu durch den Geisterwald steuert.

Bei einem Erdbeben versanken die Bäume vor Jahrzehnten in den Fluten. Nur noch schwarze Äste und Stämme ragen heute aus dem Wasser. Die letzten Flusskilometer gilt es zu Fuß am Ufer zu bewältigen - und dann ist man angekommen an der Mündung in den Pazifik. Das nächste Land - von hier aus ist es Tausende Kilometer entfernt.

Das Brausen des Windes mischt sich mit dem Rauschen der Brandung, die Luft riecht nach Fisch und Algen. Muscheln und Seetang, so dick wie Schiffstaue, liegen im Sand. Direkt an der Küste steht die „Muelle de la Luz“, die Mole des Lichts: eine hölzerne Rampe, die im scheinbaren Nichts endet.

Der Fährmann holt die Seelen ab

Die „Mole des Lichts“ ist einer der entlegensten Orte im Archipel von Chiloé mit seinen rund 40 Inseln im Süden Chiles - die kleinste lässt sich in einer halben Stunde zu Fuß umrunden, die Hauptinsel ist die fünftgrößte Südamerikas. Die Küsten sind rau, die Wälder urwüchsig, das Klima unberechenbar. Charles Darwin schimpfte, das Wetter auf Chiloé sei „im Winter entsetzlich und im Sommer nur unwesentlich besser“.

Für die Ureinwohner vom Volk der Huilliche ist es der „Ort der Möwen“. Eine ihrer Legenden diente als Inspiration für den Bau der „Mole des Lichts“: Die Indigenen glaubten, dass der Fährmann Tempilcahue hier die Seelen der Verstorbenen für die Reise ins Paradies abholte. Nicht nur diese Geschichte ist bis heute präsent, sondern auch Storys von fliegenden Hexen, Trollen und Meerjungfrauen.

„Das laute Tosen des Meeres, die Stürme, das Geschrei der Seevögel - das weckt in manchen Menschen Urängste“, sagt David Saúl Jara, der das einzigartige Kunstwerk seit mehr als zwei Jahren zusammen mit seiner Frau Alejandra Reyes hütet. Einsamkeit kannten die beiden vorher schon: sie als Nonne, er als Mönch. „Aber dann haben wir uns verliebt, den Habit abgelegt und geheiratet“, erzählt Jara.

Kirchen wie Schiffe

Den Geisterglauben der Huilliche indes konnten auch die Jesuiten nicht ausrotten, die ab Anfang des 17. Jahrhunderts im Jahresrhythmus die abgelegenen Dörfer besuchten und hölzerne Kirchen errichteten. Bei diesen prächtigen Bauwerken ist das Wort Kirchenschiff wörtlich zu verstehen: Da die einheimischen Handwerker sich nur mit dem Bootsbau auskannten, wandten sie ihr Wissen auch bei der Errichtung der Gotteshäuser an.

Rund 150 der historischen Kirchen sind erhalten, 16 davon gehören zum Weltkulturerbe - darunter jene auf der kleinen Insel Chelín, die man entweder mit der Fähre erreicht oder mit einem Ausflugsschiff wie der „Williche“, einer schicken hölzernen Motorjacht.

Die Landschaft ist so zerklüftet, dass nur Ortskundige den Weg durch die Inseln und Fjorde finden. In der Ferne leuchten die Gletscher des Vulkans Corcovado vom Festland herüber. Unterwegs drosselt Kapitän Manuel Enrique immer wieder den Motor. Einmal tummeln sich Delfine vor dem Bug, später stoppt er neben einer Robbenfamilie, die auf einer großen Boje döst.

Von einem Hügel auf Chelín schweift der Blick über das winzige Dorf, den Friedhof mit seinen Mini-Schindelhäusern und die Kirche mit ihrem 18 Meter hohen Turm. Am Kirchenportal wartet schon Rosa Vera, die das Gotteshaus betreut. Weil der Priester früher meist nur einmal im Jahr mit dem Boot kam, wurde er in der übrigen Zeit traditionell von Laien vertreten, die sich um die Heiligenfiguren kümmerten, Gebete abhielten und Beerdigungen organisierten.

„Die Kirche war immer der zentrale Treffpunkt für unsere Gemeinschaft. Doch heute will kaum noch jemand das Amt ausüben“, sagt Vera. Sie zeigt die Besonderheiten der Architektur: das Gewölbe, das tatsächlich an einen Schiffsrumpf erinnert, die holzverkleideten Säulen mit Bemalung im Marmorlook und Fenster in Bullaugenform.

Die Retter des Kulturerbes

Während das Weltkulturerbe weitgehend restauriert wurde, drohen große Teile der hölzernen Alltagsarchitektur in Vergessenheit zu geraten. Viele Holzhäuser auf dem Land verfallen unter dem Einfluss von Regen und Stürmen. Das Projekt Weltún auf der Halbinsel Rilán hat es sich zur Aufgabe gemacht, herausragende Exemplare zu retten.

„Wir haben bis zu 140 Jahre alte Häuser aus dem ganzen Archipel hierher gebracht - teils von Ochsen gezogen, teils über das Wasser geschleppt“, sagt der Koordinator Andrés Duque. Heute können Besucher im Museum vor Ort in eine archaische Lebensweise eintauchen, die vor 20 Jahren noch üblich war.

„Aber es muss mehr passieren, damit unsere Holzkultur nicht verschwindet“, fordert Duque. „Seit der Pandemie kommen immer mehr Großstädter nach Chiloé, es wird viel gebaut.“ Spätestens 2028 soll eine neue Brücke die Insel mit dem Festland verbinden und noch mehr Besucher bringen. Die Einheimischen sehen das mit gemischten Gefühlen.

David Saúl Jara und Alejandra Reyes, die Hüter der „Mole des Lichts“, wollen indessen nach Jahren der Einsamkeit in die Zivilisation zurückkehren und einen Laden eröffnen. Ihr Job am Ende der Welt ist dann wieder zu haben. „Es wird schwer sein, jemanden zu finden, der ohne Internet, Fernsehen oder Warmwasser leben möchte“, meint Jara. „Alles ist sehr wild - und ich hoffe, es bleibt so.“

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Chiloé, im Übergang zwischen dem Seenland und Patagonien gelegen, ist mit 8.400 Quadratkilometern Fläche die zweitgrößte Insel Chiles.

Beste Reisezeit: Der Südsommer ab Oktober bis in den April eignet sich zum Reisen. Zur Hochsaison zwischen Dezember und Februar ist das Preisniveau höher.

Anreise: Mit dem Flugzeug über Santiago de Chile in die Inselhauptstadt Castro, alternativ nach Puerto Montt auf dem Festland, dann weiter mit Mietwagen oder Linienbus und Fähre.

Einreise: Ein noch sechs Monate gültiger Reisepass ist erforderlich. Bei einem Aufenthalt bis zu 90 Tagen erhält man einen Einreisebeleg, der bei Ausreise wieder abzugeben ist. Unterkunft: Die hölzerne Luxuslodge „ Tierra Chiloé“ bietet ein Komplettpaket mit Exkursionen, darunter die Bootstour auf der „Williche“. Eingebettet in Natur liegen die Suiten des Hotels „ Ocio Territorial“. Originell ist die Übernachtung im Pfahlbau „ Palafito 1326“ in der Hauptstadt Castro.

Gesundheitshinweise: Für Chile sind keine Impfungen vorgeschrieben, die Tropeninstitute empfehlen die klassischen Vorsorgemaßnahmen.

Touren/Aktivitäten: Individuelle Exkursionen unter anderem zur Mole des Lichts und zu den Holzkirchen veranstaltet Siempre Verde Turismo (Tagestouren ab 170 Euro für zwei Personen). Das Museum auf der Halbinsel Rilán kostet umgerechnet 4,50 Euro Eintritt.

Währung: 1.000 chilenische Pesos entsprechen ungefähr 0,90 Euro (Stand: 16.04.2025).

Weitere Auskünfte: chile.travel/de; chiloenatural.com

© dpa-infocom, dpa:250420-930-454003/1

(dpa)