Horror in Ingolstadt Auf den Spuren von Frankensteins Monster
Ingolstadt (dpa) - Eine dunkle, regnerische Nacht, ein medizinisches Labor, Kerzenlicht, Leichenteile - und die Vision von einer Schöpfung, die eine neue Art begründen soll.
Darum dreht sich die Schlüsselszene von Mary Shelleys Roman „Frankenstein“, erschienen vor 200 Jahren, Anfang 1818. Für viele ist die Geschichte der Beginn der Sparte Horror. Ihren Ursprung hat die Geschichte in Ingolstadt. Nun, zum Jubiläum, macht sich die Stadt zwischen engen Gassen und alten Mauern auf die Suche nach den Spuren des Monsters. Und beweist, dass die Geschichte mehr kann als zu gruseln - und hochaktuell ist.
Shelley lässt den Horror ausgerechnet an einem Ort beginnen, der - heute zumindest - idyllischer nicht sein könnte. Das spätbarocke Gebäude der alten Anatomie in Ingolstadt liegt ruhig und würdevoll da. Dahinter, im Kräutergarten, streifen Besuchergruppen umher. Der Gärtner reinigt die Beete.
Nur wenige Meter weiter aber wurden vor etwas mehr als 200 Jahren feierlich Leichen seziert, sagt Stadtführerin Maria Pilz. Denn im sogenannten anatomischen Theater der ersten Landesuniversität wurde medizinische Pionierarbeit geleistet: Über die Galerie konnten Medizinstudenten - aber auch Bürger - dabei zusehen, wie im Erdgeschoss bei Geigenmusik der Professor in Frack und Zylinder die Vorschneider anwies, die Körper von Straftätern und Soldaten zu zerlegen.
Diese Arbeit in Ingolstadt sprach sich schnell auch über die Landesgrenzen hinweg herum. Nur wenige hatten es bis zu diesem Zeitpunkt gewagt, an toten Menschen herumzuschneiden, zu groß war die Angst vor dem Zorn der Kirche. Und so hörte vielleicht auch Mary Shelley von der Universität - obwohl sie selbst nie Ingolstadt besuchte.
Als dann alle Teilnehmer eines Schriftstellerkreises in den Schweizer Bergen im verregneten, kalten Sommer 1816 eine Horrorgeschichte schreiben sollten, wählte die damals 19-jährige Shelley Ingolstadt als Ausgangspunkt. Die alte Anatomie war da aber schon jahrelang verwaist, die Universität samt Studenten erst nach Landshut, später nach München gezogen. Dennoch ließ Shelley ihre Figur, Viktor Frankenstein, in Ingolstadt Medizin studieren - und die Idee entwickeln, künstliches Leben zu erschaffen.
So kann die Stadtführerin heute erahnen, in welcher Gasse Frankenstein vielleicht sein kleines Apartment gehabt haben soll und auf welchem Friedhof er im Roman die Leichenteile für seine Kreatur ausbuddelte. Doch die Touristen - und auch so manche Einheimische - stört das wenig. Sie wandeln in Scharen bei Einbruch der Dunkelheit auf Gruselführungen auf den Spuren des Monsters durch die Stadt, auch wenn selbst der Tourismuschef Jürgen Amann sagt, dass es dabei zum großen Teil um Klamauk geht. „Sicherlich gibt es bestimmt jemanden, der da die Nase rümpft und sagt, man darf keinen Zentimeter von der Historie abweichen“, sagt er. Er sieht das anders: „Man muss vor allem eine gute Geschichte erzählen.“
Das bedeutet aber nicht, dass das Programm nicht auch ernste Punkte umfasst. Ja, man bewirbt Monsterblut (Schnaps), Monsterpillen (Pfefferminzbonbons) und Frankenstein-Eis (ein leuchtend blutrotes Beerensorbet). Aber man hat auch erkannt, dass Frankensteins Vision, ein neues, besseres Leben zu erschaffen, aktueller ist denn je. Und deshalb wird das Thema weitergedacht, weitergetrieben. Auch dorthin, wo es Ingolstadt und den Ingolstädtern vielleicht manchmal wehtut.
Das Stadttheater zum Beispiel stellte einen futurologischen Kongress auf die Beine, in der Wissenschaft, Forschung, Technik und Kunst drei Tage lang die Verschmelzung von Mensch und Maschine thematisierten. Da tanzten Roboter Ballett und Zombies wandelten durch apokalyptische nukleare Wüsten. Autonomes Fahren, autonomes Töten und automatisiertes Denken - alles Themen, die nicht nur die Automobilstadt umtreiben, sondern auch verknüpft werden können mit Frankensteins - also Shelleys - Zukunftsvision.
Das Tourismusbüro legt das Jubiläum zudem bewusst jung und anders auf: Mit 3D-Streetart vor dem altehrwürdigen Rathaus und mit Improvisationstheater zu den Themen Frauenrechte und freie Liebe.
Zum Ende des Jahres wird es im Programm dann noch einmal ernst: Der Historiker Theodor Straub spricht über die Fantasie Frankensteins, dass der Mensch des Menschen Schöpfer sein könnte und sich so an Gottes Stelle setzt. Und darüber, wie diese Vision im 20. Jahrhundert scheiterte. Genau wie es die fiktive Geschichte Frankensteins und seines Monsters vorhersagte.