Auf Schienen durch die Tundra: Im Zug Russland entdecken

St. Petersburg (dpa/tmn) - Der Zug rollt langsam in den Ladogaer Bahnhof in St. Petersburg ein. Ein kräftiger Ruck, und die graue Wagenschlange kommt abrupt zum Stehen.

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Grau ist auch die Uniform von Alexander, der an der Wagentür steht. Er ist der uneingeschränkte Herr über den Waggon Nummer 10 mit seinen neun Schlafwagenabteilen. Nur wenn alles übereinstimmt, dürfen die Passagiere in den Zug einsteigen und bekommen ein Abteil mit blauen Polsterbänken und altmodischen Gardinen zugewiesen.

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Die Betten müssen die Gäste allerdings selbst beziehen. Handtücher liegen bereit und Patschkis auch - das sind Stofflatschen, in denen man sich auf den Gängen bequem bewegen kann. Leger ist auch die Kleidung der Reisenden. Viele Männer tragen Jogginganzüge, manche ein Unterhemd. Schließlich ist das Abteil für die nächsten 47 Stunden so etwas wie eine kleine gemeinsame Wohnung auf Rädern.

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Auf die Minute pünktlich setzt sich die Murmanbahn in Richtung Murmansk in Bewegung, ohne jede Ansage. Während der Fahrt lernt man seine Liege-Nachbarn kennen. Die Verständigung ist nicht immer einfach, aber irgendwie funktioniert es doch. Juri zum Beispiel erzählt, dass er in der Nähe von Murmansk im Bergbau arbeitet. „Das ist ein knochenharter Job“, sagt er. „Aber das Geld stimmt, wir werden gut bezahlt. Meine Ehefrau und meine Tochter leben weiter in St. Petersburg und ich pendle eben“, erzählt der Russe. „Außerdem lerne ich dabei immer interessante Menschen kennen“, sagt er und lädt seine Mitreisenden auf einen Wodka in den Speisewagen ein.

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„Bei uns wird nicht glasweise bestellt, sondern nach Gewicht. Sto Gramm sind 100 Gramm“, erklärt Juri. Es wäre grob unhöflich, die Einladung zum Wodka auszuschlagen oder das Glas nicht auszutrinken. Natürlich wird erwartet, dass auch die ausländischen Touristen mal ein Gläschen spendieren. Längst ist die Welt da draußen für eine Weile nicht mehr wichtig. Hier im Zug bekommt man tiefe Einblicke in die russische Seele - die etwas mit der Erfahrung von unendlicher Weite zu tun haben muss, denkt sich der ausländische Gast.

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Am nächsten Tag bleibt Zeit, das einzigartige Naturschauspiel links und rechts der Schienen zu verfolgen. Kaum wahrnehmbar ist der Unterschied zwischen Tag und Nacht, denn so weit im Norden geht die Sonne im Sommer kaum noch unter. Zunächst sind es scheinbar endlose Birken- und Kiefernwälder, die stundenlang vorbeiziehen. Nur in großen Abständen tauchen kleine Dörfer mit windschiefen Holzhäusern auf. Menschen sind nicht zu sehen. Doch Wäsche, die im Wind flattert, zeigt, dass die Hütten bewohnt sind.

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Murmansk, schon jenseits des Polarkreises auf der Halbinsel Kola gelegen, ist auch im Sommer keine Schönheit. Immerhin erstrahlt der Bahnhof frisch renoviert in leuchtendem Mintgrün, doch bei einer Fahrt durch die rund 300 000 Einwohner zählende Stadt fallen vor allem wenig ansehnliche Plattenbauten auf. Murmansk war bis 1991 militärisches Sperrgebiet. Die Stadt war immer ein wichtiger Stützpunkt der russischen Flotte, der eisfreie Hafen ist von großer strategischer Bedeutung. Bis heute dominiert das Militär die Region. Jedem Besucher wird das riesige Aljoscha-Denkmal gezeigt, das auf einer Anhöhe über der Kola-Bucht thront. Es symbolisiert einen Rotarmisten und erinnert mit einer ewigen Flamme an die Opfer der blutigen Kämpfe während des Zweiten Weltkriegs.

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Besonders stolz ist Russland heute auf seinen prestigeträchtigen Hochgeschwindigkeitszug Sapsan, der zwischen St. Petersburg und Moskau verkehrt. Für die 700 Kilometer lange Strecke braucht er weniger als vier Stunden. „Der Sapsan symbolisiert alles Neue und Fortschrittliche“, verkündet der russische Bahnchef Wladimir Jakunin. Allerdings rauscht der russische ICE durch eine ziemlich trostlose Welt, die auf den Superzug nicht vorbereitet ist.

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Die Strecke teilt ganze Dörfer, und veraltete Bahnübergänge bereiten zusätzlich Probleme. Weil niemand genau weiß, wann und aus welcher Richtung die Züge mit Tempo 250 heranrauschen, kommt es immer wieder zu Unfällen. Doch wer es sich in den Ledersitzen der 1. Klasse bequem macht und Essen und Trinken genießt, bekommt von den Problemen entlang der Strecke kaum etwas mit.

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Ungeschönt erleben Reisende das russische Riesenreich dagegen bei einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, auf der längsten Bahnstrecke der Welt. Wer in Moskau in den Zug steigt und ihn in Wladiwostok am Japanischen Meer wieder verlässt, hat fast 9300 Kilometer zurückgelegt und sieben Zeitzonen durchquert.

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Die ganze Reise über ist es im Zug eher viel zu warm, ganz gleich, ob man sich für den einfachen Regelzug oder die komfortablere Variante mit dem angehängten Zarengold entschieden hat. Letztere Waggons bieten nicht nur mehr Komfort, sie werden auch für längere Stopps und Erkundungstouren mit Hotelübernachtungen immer wieder abgekoppelt.

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Etwa 80 Stunden wird der junge Student Anton aus dem 500 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Woronesch unterwegs sein, bevor er die sibirische Kleinstadt Nowaja Igirma erreicht. Von Irkutsk sind es für ihn noch einmal über 800 Bahnkilometer in den Norden. „Ich wünsche euch ein Leben so lang wie der sibirische Winter, so stark wie der russische Wodka und eine Erinnerung an diese Reise, die so lange anhält, wie der Baikal tief ist“, sagt er beim Aussteigen.