Jütland mit Hund: Nebensaison in den Dünen zwischen Nordsee und Ringkøbing-Fjord Stürme besuchen
Die vielen Kaninchen in den Dünen sind vorgewarnt. Er hat es ihnen gesagt. Laut und deutlich: dass er jetzt da ist. Dass er eine Woche bleibt. Dass er ihnen nichts tun, aber vielleicht ein Stück hinter ihnen her rennen wird und sie sich vielleicht erschrecken würden.
Zweimal laut hat er die Info in die Gegend gebellt: direkt von der Ferienhausterrasse bei Hvide Sande aus, gleich nach der Ankunft. Es kann sein, dass es nicht alle gehört haben, weil es hier an der Nordsee oft windig ist um diese Jahreszeit, stürmisch manchmal. Und weil der Wind diese Wuffer mitgenommen und ganz woanders wieder fallen gelassen haben könnte.
Flat Coated Retriever Gizmo jedenfalls schaut etwas verwundert sein Herrchen an: wahrscheinlich weil die Kaninchen nicht sehr beeindruckt sind und zwei von ihnen den Hals trotz der Vorwarnung frech aus dem flachen grau-grünen Wintergras recken. „Fang uns doch“ scheint ihr Gesichtsausdruck zu sagen – und irgendwie hat er auch etwas von „herzlich willkommen bei uns“.
Plüsch-Enten
und Quietsch-Fuchs
Gizmo jedenfalls hat erstmal ohnehin anderes zu tun: die Familie beim Autoausladen und später beim Kofferauspacken beobachten, jeden einzelnen Gang vom Auto zum Ferienhaus und zurück wie der Security-Mann bei einem Geldtransporter begleiten und vor allem sicherstellen, dass die Kiste mit seinen Sachen nicht womöglich doch im Wagen vergessen wird. Und dass alles, was wichtig ist, im Ferienhaus-Wohnzimmer landet. Seine Decke, sein Kissen, zwei Plüsch-Enten und der heißgeliebte Quietsch-Fuchs. All das ist sogar noch wichtiger als der Futtersack. Nach einer Dreiviertelstunde liegt der große schwarze Hund zufrieden vor dem dänischen Kaminofen: alles da, nichts vergessen.
Und gut fühlt es sich an, dieses zitronengelb gestrichene Ferienhaus mit Kunstledersofa, Einbauküche, gemütlicher Alkoven-Ecke, mit zwei Schlafzimmern, Whirl-Wanne und Mini-Sauna im Badezimmer. Bei den meisten neueren Häusern an Jütlands Nordseeküste ist das inzwischen die Standardausstattung. Einen riesigen Fernseher gibt es ebenfalls. Er ist komplett überflüssig, denn das Ferienhaus hat ja Fenster und bietet den besten Blick in die Dünen und darüber hinaus. Zudem sieht man durchs Fenster wahrscheinlich häufiger Kaninchen als im Fernseher. Und schöner ist der Blick auch: weil da draußen Dänemark ist statt Vorabendserie, Nordseestrand statt Krawall-Talkshow, Sternenhimmel und Wind statt TV-Krimi.
Wenig ist dort in der Nebensaison los, die meisten Häuser ducken sich verwaist in die Dünentäler, kaum irgendwo ist abends Licht an, bei nur ein paar davon stehen Kerzen auf der Fensterbank, aus wenigen Schornsteinen nur raucht es: Nach den Herbstferien und vor Ostern ist Ferienhausurlaub auf der Landzunge zwischen Ringkøbing-Fjord im Osten und der Nordsee im Westen echtes Minderheitenprogramm.
Zu Weihnachten und Silvester
ist Hochsaison
Ausnahme: Weihnachten und Silvester, dann ist es voll wie in der Hochsaison. Und auch an manchen schönen, klaren, kalten Wochenenden ist ausnahmsweise mehr los, dann stehen Autos überwiegend mit dänischen Kennzeichen für zweieinhalb Tage vor manchen Häusern, dann sind die Besitzer selber für eine Auszeit da – oder haben Freunden den Schlüssel gegeben. Dann sind so viel mehr Menschen da. Und mehr Hunde.
Bei der ersten Abendrunde auf dem Sandweg zwischen den vielen dunklen Ferienhäusern taucht tatsächlich ein anderer Hund im Mondlicht auf: ein Cocker-Spaniel, der Frauchen an der Leine hat und forsch an ihr zerrt, um den Neuankömmling aus Deutschland freundlich zu begrüßen. Sie ist Dänin und plaudert flott drauflos: „Der er kaniner overalt“, sagt sie. Was das bedeutet ist schnell erraten: „Hier sind überall Kaninchen, overalt i buskene, überall im Gebüsch.“ Sie zeigt auf das niedrige Gestrüpp, auf die nicht mal kniehohe Bepflanzung – und muss eilig weiter, weil der Cocker unterm Sternenhimmel noch mehr Kaninchen zählen will.
Am nächsten Morgen hat irgendwer die Sonne über den Dünen gehisst, kalt und klar ist es, der Wind pustet und lässt die vielen dänischen Fahnen an den Masten vor den Häusern knattern. Bis hinter den Horizont reicht der Strand, breit ist er, kilometerlang von diesen Dünen gesäumt, an die sich der Strandhafer klammert.
Im Zickzack-Kurs
durch den Sand
Meterweit rollen die Wellen aus – und einer hüpft voller Glück im seichten Wasser herum und bellt die Nordsee an, als wollte er sie auffordern, noch ein bisschen wilder zu spielen: Gizmo in seinem Element. Ab und zu hebt ihn eine Welle ein paar Zentimeter an und stellt ihn ein winziges Stück weiter strandaufwärts wieder auf. Er findet das wahnsinnig komisch, rennt anschließend übermütig im Zickzack-Kurs durch den Sand, schleppt ein angeschwemmtes Schiffstau an, um wenig später seiner Frisbee-Scheibe hinterherzurennen. Irgendwo am Horizont sind andere Hunde unterwegs, und das Szenario scheint aus der Ferne exakt dasselbe zu sein.
Einen knappen Kilometer ist der Landstreifen breit, der den Ringkøbing-Fjord von der Nordsee trennt und ihn fast zu so etwas fast zu so etwas wie einem großen See unmittelbar hinter der Küstenlinie macht. Stiller ist es an der Fjordseite, wilder an der anderen, die dem offenen Meer zugewandt ist – und dazwischen liegen all die Häuser, Dünen, Kaninchenquartiere.
Die meisten kleinen Tante-Emma-Läden dort in den Ferienhausgebieten haben auch im Winterhalbjahr geöffnet, verkaufen morgens ein paar frische Brötchen, tagsüber vor allem Kaminholz-Gebinde und Anzünder, zwischendurch ein paar Lebensmittel. Und Hundespielzeug! Supermärkte gibt es in Hvide Sande und Søndervig, ein paar Restaurants dazu – und Fischräuchereien.
Ort und Zeit, um
richtig abzuschalten
Was dort besonders gut funktioniert? Wandern, lesen, reden, schweigen, Musik hören, kochen, Mittagsschlaf machen. Endlich einfach abschalten – in gewisser Abgeschiedenheit. Und, falls man zufällig Hund ist: Kaninchen beobachten. Diesen Nachmittag vorm Kamin träumt Gizmo offenbar von ihnen oder vom Toben am breiten Strand, fiepst und wufft im Schlaf, zuckt mit den Pfoten ohne aufzuwachen, als galoppierte er. Zehn Minuten später steht er mit seinem Plüsch-Fuchs im Maul an der Haustür. Was das heißen soll? „Lass´ uns nochmal wieder losgehen, gleich jetzt!“. Warum eigentlich nicht.
Am Horizont reckt sich der Leuchtturm in den Himmel, die Wochenend-Dänen sind wieder abgereist, in den Ferienhaus-Kolonien ist es ein bisschen leerer geworden – und für die Nacht ist ein Konzert angekündigt: Sturm soll über die Dächer pfeifen, mit seinen Böen an die hölzernen Hauswände trommeln, wird Lieder singen, Melodien in den Schornstein fallen lassen.
Gizmo gefällt es, er macht einen Vorfreude-Bocksprung und scheint es lustig zu finden, dass die eigenen schwarzen Schlappohren schon jetzt waagerecht in der Luft hängen. Ganz schön was los hier, während offiziell nichts los ist.