Kunst zum Dahinschmelzen - Chinas Eisfest in Harbin

Harbin (dpa/tmn) - Das Thermometer zeigt minus 22 Grad an, der 67 Jahre alt Sun Mojie ist in seinem Element. Mit seiner Hand streichelt er über einen zwei Meter langen Klotz aus Eis. „Das ist doch ein echter Rohdiamant“, sagt Sun.

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Einen Tag wird er brauchen, um daraus eine Skulptur zu schaffen.

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Tiere, Fabelwesen und ganze Schlösser entstehen jedes Jahr zum Eisfest in Chinas Nordprovinz Heilongjiang. Seit mehr als 300 Jahren haben die Fischer in der Region südlich von Sibirien ein besonders Verhältnis zum gefrorenen Wasser. Im 17. Jahrhundert sollen die Ersten angefangen haben, sich Eis-Laternen für dunkle Winterabende zu bauen. Sie bohrten Löcher für Kerzen in riesige Eiswürfel.

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Sun ist in der eisigen Kälte in der Provinzhauptstadt Harbin aufgewachsen. Als kleiner Junge schnitzte er im Winter Figuren aus Eis. Dann wurde für ihn aus dem Zeitvertreib ein Beruf. Denn die Provinzregierung erkannte in den Eis-Laternen das Potenzial für eine Touristenattraktion. Die Rechnung ging auf.

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1963 richteten die Funktionäre ein Eisfest in Harbin aus. Drei Jahre später versanken weite Teile Chinas für ein Jahrzehnt im Terror der Kulturrevolution. Aber als das Riesenreich in den 80er Jahren zur großen, wirtschaftlichen Aufholjagd ansetzte, war auch das Eisfest zurück. Mit dem steigenden Wohlstand vieler Chinesen wächst das Fest seit Jahren. Mittlerweile wetteifern drei Parks jeden Winter mit aufwendigen Skulpturen um die meisten Besucher.

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Harbin beansprucht für sich den Titel als größtes Eisfest der Welt. Rund eine Million Besucher kommen für die Eiskunstwerke jedes Jahr in Chinas Norden. In der Liga spielen höchstens noch das Sapporo Schnee-Festival in Japan, der Winter-Karneval im kanadischen Quebec oder das Ski-Festival in Norwegen.

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Sun Mojie geht einen Schritt zurück und betrachtet den Eisblock. Es zeichnet sich die grobe Form eines Kopfes ab. „Unsere Arbeit ist eine sehr vergängliche Kunst“, sagt er. „Es ist eine Arbeit für den Augenblick. Das macht den Reiz aus.“ Bildhauer hätten Monate für ihre Skulpturen. Ihm als Eiskünstler blieben ein paar Tage.

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Denn selbst bei den Minusgraden halten die Werke nur kurz. Mit seinem Handschuh deutet Sun auf den aus Eis geschnitzten Flügel eines Engels. Die feine Maserung der Federn ist kaum noch zu erkennen. „Das macht der Wind“, erklärt er. Selbst bei minus 30 Grad zerstöre er innerhalb von Tagen die feinen Details der Kunstwerke.

Harbin verdankt seine Bedeutung Russland. Im Jahr 1896 handelte das Zarenreich einen Vertrag mit China für den Bau einer Eisenbahnstrecke von Wladiwostok über Harbin in die mehr als 800 Kilometer nordöstlich von Peking gelegene Küstenstadt Dalian. Mit den russischen Arbeitern und später Flüchtlingen nach der russischen Revolution 1917 wuchs Harbin zu einer Industrie- und Handelsstadt heran. Noch heute zeugen die orthodoxe Kirche St. Sophia und eine Synagoge von der russischen und jüdischen Vergangenheit.

Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden. Hinter Herr Sun erstrahlt bereits der Eispalast in einer Mischung aus Neonblau, Neonorange und Neonlila. Dahinter hat eine Rutsche eröffnet, in der die Besucher auf Autoreifen einen etwa 50 Meter langen Kanal aus Eis hinunterrutschen können. Als Höhepunkt des Parks gilt aber ein Turm aus Eis, von dessen Spitze die ganze Anlage überblickt werden kann.

Mit einem Meißel schlägt Sun nach und nach ein Loch in den Eisklotz. Die Temperatur ist mittlerweile auf minus 29 Grad gefallen. Vorsichtig schiebt Sun eine orangene Neonleuchte in den Eisklotz. Die Statue erstrahlt. Sun geht einen Schritt zurück und blickt auf die bunt erleuchtete Eisstadt. „So muss das sein“, sagt er.

Bald möchte er wieder zu einem Eisfest in die USA reisen. Dreimal war er bereits da, um Kunstwerke zu schnitzen und US-Amerikanern die Arbeit an den Eisklötzen beizubringen. Europa und die Bundesrepublik würden ihn auch reizen, sagt er. „Aber bei euch in Deutschland ist es einfach zu warm für richtige Eiskunst.“