Kurische Nehrung: Bräute, Hexen und Wanderdünen
Die Halbinsel Litauens ist kaum vier Kilometer breit und lässt sich prima per Rad erkunden.
Düsseldorf. Kaffeepause auf dem litauischen Küstenradweg geht so: Die Kaffeefrau zaubert an der Maschine im Kofferraum ihres Kleinwagens Latte macchiato und Cappuccino, während die Radfahrer ihre müden Beine in das hohe Gras am Straßenrand strecken. Koffeingestärkt erklimmen sie dann die steilen Sandhügel der Toten Düne. Von dort lässt sich eine eindrucksvolle Aussicht genießen: Links schweift der Blick über die Ostsee, rechts über das Kurische Haff.
Doch nicht so schnell: Eine Tour durch den Nationalpark und das Unesco-Weltkulturerbe Kurische Nehrung beginnt im Hafen von Klaipeda. Auf die Radtouristen wartet dort Inga Letinauskien, die den Ausflug leitet. Mit der Fähre geht es für 2,90 litauische Litas, umgerechnet etwa ein Euro, übers Haff.
52 Kilometer lang ist der litauische Teil der Halbinsel. Fast ein halbes Jahrhundert war dieser Festlandstreifen für Urlauber unerreichbar und von der russischen Armee mit Raketenstellungen bestückt. Mittlerweile landen wieder unzählige Ausflügler in Smiltyne. Am Wochenende strömen vor allem Familien in das dortige Meeresmuseum samt Delfinarium.
Auf der Nehrung, mehr als 5000 Jahre durch Sand, Wind und Meereswellen geformt, ist alles etwas rauer. Selbst das Wetter passt sich der Umgebung an. Die Räder huckeln leicht über den nicht mehr ganz so glatten Radweg. Er verläuft direkt neben der Straße, doch Autos sind weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen alte, verlassene Militärgebäude, die langsam verrotten. Ein paar Einheimische mit Plastikeimern voller Pilzen am Rad. Nur die drei Elche, die es auf der Nehrung geben soll, lassen sich nicht blicken.
Dafür warten in Juodkrante allerlei eigentümliche Gestalten auf die Radler. Ein Pfad führt auf den 42 Meter hohen Hexenberg, eine der schönsten Dünen der Halbinsel. Dort wurde bis zum Ersten Weltkrieg noch die Mittsommernacht gefeiert. Der Förster von Juodkrante, Jonas Stanius, ließ sich von den verwunschenen Wäldern inspirieren und gründete im Jahr 1979 einen Workshop für Holzschnitzer — ihre Figuren hauchen jahrhundertealten Legenden Leben ein.
Mehr als 80 freundliche und düstere Gestalten bevölkern nun den Hexenberg — unter ihnen die Riesin Neringa, die Namenspatin des litauischen Teils der Nehrung.
Beim Mittagspäuschen mit Quarkkuchen ist Zeit genug, den Märchen zu lauschen. Wer es deftig mag, findet in dem Fischerörtchen Juodkrante eine passende Alternative: „Rukyta Zuvis“ preisen zahlreiche Schilder an. Geräucherten Fisch. Einen Abstecher ist auch die Kurenwimpel Galerie wert. Die typischen Holzwimpel schmückten einst die Mastspitze der Segelkähne auf dem Haff.
So ließen sich die Fischer besser ihren jeweiligen Heimatorten zuordnen. Geschnitzt beim stundenlangen Warten auf den Fang, entwickelten sie sich zu einer volkstümlichen Tradition mit besonderer Symbolsprache. Heute sind die Kurenwimpel ein beliebtes Souvenir für den heimischen Garten.
Weiter führt der Weg Richtung Süden, immer wieder schlängelt er sich durch lichte Kiefernwälder. Die Bäume stammen aus Dänemark, erklärt Inga, sie haben besonders breite Wurzeln. So halten sie die Nehrung fest. Bis ins 19. Jahrhundert hatten Sandverwehungen regelmäßig Dörfer unter dicken Schichten begraben. Besonders eindrucksvoll lässt sich das an der Toten Düne nachvollziehen. Ein Holzbohlenweg führt hinauf in eine unvergleichliche Sandlandschaft, die ständig vom Wind neu geformt wird. Meer, Wald, Dünen und Haff als Puzzleteile.
Nun ist es nicht mehr weit bis Nida, mit 1500 Einwohnern die größte Ortschaft der Halbinsel. Dem stehen etwa 400 000 Gäste pro Saison auf der Nehrung gegenüber. Ende des 19. Jahrhunderts waren es die Abgeschiedenheit und das besondere Licht der Halbinsel, die zahlreiche Künstler ins damalige Nidden lockten. Bekannte Namen wie Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff lebten und arbeiteten in der Künstlerkolonie.
Berühmtester Feriengast war jedoch der Schriftsteller Thomas Mann. Von 1930 bis 1933 verbrachte er hier jeden Sommer, ließ sich sogar ein Ferienhäuschen bauen. Heute beherbergt es eine Ausstellung — vor der steilen Treppe kapitulieren die müden Radfahrer-Beine jedoch endgültig. Lieber wagen sie einen schnellen Abstecher ins Bernsteinmuseum. Wer das gelbe Gold streichelt, hat Glück für das ganze Jahr, erklärt die Aufsicht. Wer ein zweites Mal reibt, sorgt für schönes Wetter. Schwierige Entscheidung.
Mit gefülltem Magen fällt sie leichter. Ausgehungert verschlingen die Radler zum Abendessen geröstete Brotstäbchen und Zander. Dazu löscht Bier aus Klaipeda den Durst. Am nächsten Tag lacht die Sonne. Die Bernstein-Entscheidung war richtig. Vor der Abfahrt auf die andere Haffseite darf ein Abstecher zur Hohen Düne nicht fehlen. Mit 60 Metern ist sie eine der höchsten Wanderdünen Europas. Über 174 Stufen und Holzstege führt der schweißtreibende Aufstieg. Doch die Anstrengung wird mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt.
Schnell noch ein paar Fotos für die Daheimgebliebenen. Dann geht es in den Hafen für die Überfahrt aufs Festland. Während im Sommer regelmäßig eine Fähre verkehrt, mieten Radfahrer außerhalb der Saison am besten ein Motorboot nach Minija.
Der Rückweg nach Klaipeda führt dann durch die Dörfer auf der Haffseite. Ein deutlicher Gegensatz zur touristisch erschlossenen Nehrung. Die Ortschaften sind ärmlich, der Radweg nur an wenigen Stellen asphaltiert. Und plötzlich das: In Svencele kreuzt ein Surfer in voller Montur den Weg. Wagemutige Litauer haben das Örtchen zu einem der bekanntesten Spots für Kitesurfer und Wakeboarder in Europa entwickelt. Und auch der Rad-Tourismus kommt langsam in Schwung.