Stadt der Kanäle - Amsterdams Grachten sind 400 Jahre alt
Amsterdam (dpa/tmn) - Im Mittelalter war Amsterdam ein kleines Fischerstädtchen. Dann aber rauften sich die Stadtherren zusammen und entwarfen ein Kanalsystem. Heute ist der 400 Jahre alte Grachtengürtel Unesco-Weltkulturerbe.
Der lange Greifarm senkt sich erneut ins trübe Wasser der Herengracht. Eine Schar Touristen hat sich an einer der vielen Brücken versammelt und beobachtet das Spektakel. Fahrrad nach Fahrrad steckt in den Fängen des Bootkrans. Gemeinsam landen sie auf einem rostigen Haufen in der Mitte des Kahns, der die Kanäle Amsterdams von Müll und sonstigem Sperrgut befreit. Warum die Kanäle als Fahrradfriedhof benutzt werden, bleibt ein Geheimnis. Die Herren der Amsterdamer Stadtplanung hatten sicherlich etwas anderes im Sinn, als sie das Kanalsystem vor 400 Jahren auf dem Reißbrett entwarfen.
Zum Ende des 16. Jahrhunderts war es eng geworden in Amsterdam. Zuwanderer aus aller Herren Länder fanden bald keinen Platz mehr innerhalb der alten Stadtgrenzen rund um den heutigen Hauptbahnhof. „Die Einwanderer kamen mit Geld und Fertigkeiten. Das bedeutete viel Potenzial für die Stadt“, erklärt Wite Lohman, Manager des Grachtenhuis, einem Museum über die Geschichte der berühmten Kanäle. Um den Einwanderern Platz zu geben und den Handel anzukurbeln, entschloss man sich zur Ausweitung der Stadt.
Im Grachtenhuis wird heute mit einer Lichtinstallation präsentiert, was damals passierte: Bürgermeister, Schatzmeister, Ingenieure, Architekten und nicht zuletzt ein Vertreter des Militärs berieten gemeinsam, wie die Stadterweiterung aussehen sollte. Pläne wurden verworfen, neue gemacht. Platz brauchte man, schön sollte es werden. Stadtmauern zur Verteidigung waren aber ein Muss. Schlussendlich einigte man sich darauf, vier große Kanäle kreisförmig um den alten Stadtkern anzulegen: Singel, Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht.
Dafür war jede Menge Sand nötig, denn Amsterdam liegt unterhalb des Meeresspiegels. Das allein genügte aber nicht, um die ehrgeizigen Pläne der Stadtarchitekten in die Tat umzusetzen. Jedes Haus benötigte Pfähle, um nicht gleich nach dem Aufbau wieder im schlammigen Untergrund zu versinken.
Die Pfahlkonstruktion erklärt, wie die Grachtenhäuser entstanden und warum sie nie viel höher sind als vier oder fünf Stockwerke: Ihr Gewicht würde die Pfähle sonst in den Untergrund drücken - und so quasi ihr eigenes Versinken verursachen. Manches bleibt selbst für Lohman rätselhaft: „Niemand ist sich ganz sicher, wie die Arbeiter das angestellt haben. Wie haben sie das Wasser davon abgehalten, in die Kanäle einzudringen, während sie gebuddelt haben?“
Sicher ist, dass eine Menge Arbeiter für das Großprojekt Stadterweiterung angeheuert werden mussten. „Auch viele Deutsche kamen, um für uns die Kanäle zu bauen“, sagt Marc Paping. Der Holländer, der sich als „Paap“ vorstellt, bietet in seinem Boot private Grachtentouren an. Statt der großflächigen Werbeposter für andere Kanalfahrten ist ihm die Mund-zu-Mund-Propaganda lieber.
Westlich des Hauptbahnhofs Richtung Süden schippert Jaap vorbei am Anne Frank Haus an der Prinsengracht bis hin zur Leidsegracht, die senkrecht zu den vier großen Kanälen verläuft. „Bis hier verlief der erste Bauabschnitt“, erklärt Paap. Der zweite folgte schnell, weiter von der Leidsegracht dem Halbkreis folgend bis hin zur Amstel, Amsterdams breitem Fluss. „Als man dann zum dritten Bauabschnitt kam, hat man festgestellt: "Wir haben schon zu viel gebaut" und verpachtete die Fläche erst einmal als Ackerland. Die Gegend heißt auch heute noch "Plantage".“
Zu viel Wohnfläche für die Stadt - das kann sich heute niemand mehr vorstellen, der schon einmal auf dem Amsterdamer Wohnungsmarkt unterwegs war. Wohnungen in der Stadt sind begehrt - besonders die mit Kanalblick. „Insgesamt 40 Prozent aller Amsterdamer können von ihren Wohnungen und Häusern einen Kanal sehen“, sagt Paap. Und er muss es wissen, immerhin sitzt er mit seinem Hausboot beim gefragten Kanalblick in der ersten Reihe.
Hausboote gehören zum Amsterdamer Stadtbild wie die Hagelslag genannten Schokoladenstreusel aufs holländische Frühstückstoast. Die Versorgung hat sich dem 21. Jahrhundert angepasst. Alle Boote sind an das städtische Stromnetz angeschlossen - und die letzten schwimmenden Häuser werden momentan mit dem Abwassersystem verbunden. Zuvor dienten die Kanäle jahrhundertelang als Kanalisation. „Auch die Häuser nutzten die Kanäle noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Abwassersystem“, erklärt van Loon.
Doch nicht nur das Jubiläum des geschützten Grachtensystems soll in diesem Jahr Touristen anlocken. Nach langer Renovierung öffnet das Rijksmuseum, das niederländische Nationalmuseum, wieder seine Türen. Und das Concertgebouw, ein Konzerthaus, feiert seinen 125. Geburtstag. Zu Beginn und Abschluss des Jubiläumsjahres stehen aber die Kanäle im Mittelpunkt: „2 Magische Winter“ lautet der Titel, unter dem Künstler die Grachten Amsterdams mit Lichtkunstwerken verzaubern wollen.