Dünnele und Hausherren: Unterwegs in Radolfzell
Radolfzell (dpa/tmn) - Radolfzell führt ein Aschenputtel-Dasein neben den größeren oder bekannteren Städten am Bodensee. Ganz zu Unrecht: Nicht nur für Radfahrer hat man hier ein großes Herz.
Radolfzell (dpa/tmn) - An der Eisdiele wird es mal wieder eng: Ein Steppke läuft quer über die Kopfsteinstraße, den Blick auf seine dicke Kugel Schokoladeneis geheftet, die auf dem langen Hörnchen bereits gefährlich zu schwanken beginnt. Die Radfahrerin kann eben noch abbremsen. „Das ist eine Fußgängerzone!“, sagt die Mutter empört, „gut gemacht“ ein unbeteiligter Passant. „Richtig“, sagt die Radfahrerin, deshalb habe sie aufgepasst und scharf gebremst.
In Radolfzell ist manches etwas anders: So dürfen zum Beispiel Radfahrer in der Fußgängerzone fahren. Man setze auf das Miteinander und die gegenseitige Rücksichtnahme, bestätigt selbst die Polizei. Zumindest im Sommer ist das Rad ein beliebtes Verkehrsmittel, genutzt von der Drei- bis hin zur 83-Jährigen, die zum Markt radelt und Salat und neue Kartoffeln von der Halbinsel Höri in ihren Drahtkorb packt.
Zum Radfahren hat die Stadt mit ihren 30 000 Einwohnern die richtige Größe - und natürlich die Lage: Fährt man am Seeufer entlang, sind es 10 Kilometer nach Allensbach, wo eine Fähre zur Reichenau übersetzt, 20 Kilometer nach Konstanz oder 24 Kilometer rund um die Halbinsel Höri zum schweizerischen Stein am Rhein.
Erster Treffpunkt der Stadt ist der Marktplatz oben am Münster, keine 500 Meter von Hafen und Mole entfernt. Ob bei den Zeller Filmnächten oder beim Spanischen Konzert: Der Marktplatz ist voll. Einmal ganz abgesehen von den normalen Markttagen mittwochs und samstags, bei denen sogar die Fahrräder draußen bleiben müssen.
Von Ende Juni bis September treffen sich Radolfzeller und Gäste zusätzlich am Donnerstag auf dem Abendmarkt, zum Dünnele und einem Glas Münsterwein. Dünnele sind eine Art Flammkuchen, im Holzofen gebacken und sehr beliebt am See, während der Münsterwein, ein Gutedel aus dem Markgräflerland südlich von Freiburg kommt.
Den Weinbau haben die Radolfzeller bald aufgegeben, als sie 1863 ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurden und die Industrie bessere Arbeitsmöglichkeiten bot. Es wurden mehr Arbeitskräfte gebraucht als Radolfzell zuc bieten hatte, und so kamen bald junge Frauen aus der Schweiz und Italien in die Stadt.
Noch heute hört man häufig Italienisch. Selbstverständlich kauft man auf dem Markt Ciabatta und Olivenöl beim Italiener, Oliven und Knoblauch aus der Provence beim einheimischen Original, das Gemüse und Obst von den Gärtnern der Höri und den Bregenzer Bergkäse vom Käsemann aus Bregenz.
An sich ist Radolfzell eine weltoffene Stadt in Grenznähe zur Schweiz. Doch in der Nazizeit wurde eine SS-Kaserne angesiedelt, die heute - mehrfach umgebaut - als Radolfzeller Innovations-Zentrum dient und wiederum junge Firmen anzieht. Stadtführerin Sybille Probst-Lunitz beleuchtet die unrühmliche Periode an einer Gedenktafel unterhalb des gotischen Münsters.
Im Münster selbst erzählt sie die Geschichte der Gründung Radolfzells: Bischof Radolf von Verona, auf der Reichenau ausgebildet, suchte einen Altersruhesitz mit Bibliothek und bat die Mönche der Reichenau um Land. Sie wollten ihn nicht direkt auf der Insel, wiesen ihm aber ein Stück Land bei einem Verwaltungshof und einer kleinen Fischersiedlung am Westende des Sees zu. Mit einer Reihe von Geistlichen siedelte er sich dort an und baute eine kleine Kirche, die Cella Radoldi. Der mittelalterliche Stadtkern ist noch heute erhalten und, kein Wunder, auch das Hausherrenfest wird noch gefeiert.