Wattwurmjagd im Winter - Adventsabend auf Hallig Oland

Dagebüll (dpa/tmn) - Am Abend vorher hat es noch so geschüttet, dass die Outdoorjacke nach zehn Minuten an den Grenzen der Belastbarkeit war. Am Morgen danach pustet es in Dagebüll hoch oben an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, dass man es kaum aushält, so schneidend kalt ist der Wind.

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Am späten Vormittag geht Regina Matthiesen unbeirrt den Deich entlang - und die Gruppe, die gleich mit ihr zur Wattwanderung zur Hallig Oland aufbrechen will, ergibt sich ihrem Schicksal und folgt ihr. Wattwandern am Adventssonntag? Wo man doch auch auf dem Sofa sitzen und Tee trinken könnte. Klingt irre? Ja, vielleicht. Ist aber trotzdem toll.

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Am Deich liegen Zweige und Äste herum, Strandgut. „Da kann ruhig jeder einen mitnehmen“, sagt Matthiesen. Nicht zum Spaß - zum Abstützen oder zum Vortasten, wenn es mal durch Wasserflächen gehen sollte und nicht klar ist, wie tief die sind. Regina Matthiesen hat kniehohe grüne Gummistiefel an, eine Regenhose und eine rote Outdoorjacke, die Kapuze hat sie über den Kopf gezogen.

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Wattwandern im Winter ist nichts für Warmduscher. Auf den offenen Wattflächen kann es ziemlich ungemütlich werden, bei eisigen Temperaturen zum Beispiel, bei kräftigem Wind oder bei Dauerregen - und noch schlimmer: wenn das alles zusammenkommt.

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Deshalb gehört zur Vorbereitung, wettertechnisch auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Und das heißt mindestens regenfeste Jacke, besser zwei Paar Socken in den Gummistiefeln, Thermounterwäsche und eine Mütze. Und zur Sicherheit Socken und eine Hose zum Wechseln im Rucksack - denn wer unterwegs in den Priel fällt, zieht sich besser möglichst schnell um.

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„Heftig der Wind heute“, sagt Regina Matthiesen, die so schnell nichts umpustet. „Aber das ist frische Luft, da hat man die ganze Woche was von.“ Dafür scheint bald sogar die Sonne, die Wasserflächen auf dem Wattboden glitzern, die Luft ist klar, von Regen keine Spur.

Unter den Gummistiefeln knirschen immer mal wieder die Schalen von Herz- und Miesmuscheln. Mit der Zeit laufen die Wattspaziergänger angeregt plaudernd oder versonnen über die riesigen Flächen, die noch vor ein paar Stunden von der Nordsee überflutet waren. Ein tolles Gefühl von Weite.

Regina Matthiesen ist mitten im Watt stehengeblieben: „Mal gucken, ob es hier Wattwürmer gibt“, sagt sie und fängt auch schon an, mit ihrem Spaten zu graben. „Die obere Wattschicht ist hell, die darunter dunkel, da kommt kein Sauerstoff mehr hin.“ Und da bewegt sich auch schon was: „Das ist ein Seeringelwurm“, erklärt sie und nimmt ihn auf die Hand.

„Der gräbt sich gleich wieder ganz schnell ein, sonst verschwindet er in irgendeinem Schnabel.“ Zwei, drei Spatenstiche später ist auch ein Wattwurm gefunden, von denen es hier Tausende gibt. Zu sehen sind sie üblicherweise nicht, sie leben in U-förmigen Röhren im Schlick, deren Ein- und Ausgang bis zur Oberfläche reicht.

Etwa auf der Hälfte der sechseinhalb Kilometer langen Strecke wartet die erste richtige Bewährungsprobe: ein Priel, über den das Wasser bei Ebbe abläuft und bei Flut wieder reinkommt. Schon im Sommer können Priele tückisch sein, weil man nie sieht, wie tief sie sind und weil die Strömung manchmal so stark ist, dass sie den besten Schwimmer mitreißt. Im Winter sind sie noch unangenehmer, weil das Wasser nun eiskalt ist.

Regina Matthiesen traut Prielen sowieso nicht. Deshalb ist sie am Tag zuvor schon einmal hierher gelaufen und hat geguckt, an welcher Stelle er flach genug zum Durchlaufen ist. Da steckt jetzt eine Pricke, ein Stock als Markierung. Und wer klug ist, probiert es gar nicht erst an anderer Stelle.

Für ein paar Teilnehmer hat Matthiesen schlechte Nachrichten: „Eure Gummistiefel sind zu kurz! Da läuft gleich das Wasser rein.“ Sicherheitshalber verteilt sie einen Müllbeutel für jeden Stiefel: „Gut festhalten - und nicht stehenbleiben.“

Ein zaghafter Schritt nach vorn, der Fuß verschwindet im Wasser, noch ein Schritt, schon reicht es bis weit über den Knöchel. Beim nächsten wäre das Nordseewasser wohl schon im Gummistiefel gewesen. Zum Glück geht alles glatt, keiner stolpert, keiner fällt hin, keiner muss aus dem Priel gezogen werden - der Alptraum jeder Winterwattwanderung. Die ganze Gruppe ist erleichtert, als es alle durch den Priel geschafft haben. Aber da lauert schon das nächste Problem: Schlickwatt.

Anders als Sandwatt, über das man mühelos laufen kann, ist Schlick doppelt tückisch: Man kommt nur langsam voran, und man sinkt leicht ein. Wenn es dumm läuft, steckt man fest und kommt mit dem Fuß nicht wieder aus dem Matsch. Was hatte Regina Matthiesen noch gesagt? „Wer steckenbleibt, darf nicht stehenbleiben!“ Also schnell bewegen, aufpassen, dass nicht auch der zweite Fuß einsinkt. Und weiter geht's.

Am Horizont sind die Hausdächer von Oland schon zu sehen - und bald auch die Häuser, die erhöht auf Warften genannten Hügeln stehen, damit Sturmfluten nicht so leicht bis an die Haustür kommen. Denn Land unter ist hier Alltag, vor allem im Winter. Die Halligen werden bei heftiger Flut von der Nordsee überspült, 20 Mal im Jahr ist nichts Besonderes. Dann gucken nur noch die Warften aus dem Wasser.

Als Oland erst erreicht ist, ist der Weg zur kleinen Kirche nicht mehr weit. Auf der Hallig leben nur noch 14 Menschen, in den vergangenen Jahren sind es deutlich weniger geworden. Für die Adventsandacht ist Pastor Matthias Krämer von der Nachbarhallig Langeneß mit der Lore rübergekommen und hat gleich ein paar Mitglieder aus dem Singkreis mitgebracht. Ein Gemeindemitglied läutet die Glocke im kleinen Glockenturm neben der Kirche.

Auf dem Taufbecken steht ein Adventskranz, auf dem Altar brennen Kerzen, genau wie am Deckenleuchter. In den schmalen Kirchenbänken sitzen Halligbewohner und Wattwanderer nebeneinander. Pastor Krämer zupft den Talar zurecht. „Machet die Tore weit“ singen die Gäste aus Langeneß. Und wer das Lied kennt, singt mit. Nach der Kirche geht es ins Gasthaus.

Davon gibt es auf Oland nur eins. Von der Kirche dorthin ist es nicht weit. Frische Waffeln mit Sahne und Kirschen werden serviert, Kaffee oder wahlweise auch Pharisäer. So heißt in Nordfriesland die Variante mit Rum unter der Sahnehaube.

Als die Gruppe Regina Matthiesen für den Rückweg nach draußen folgt, ist es schon stockdunkel. Ans Festland geht es nun per Schiff. Die „Seeadler“ hat gerade angelegt. Dabei hat das Wasser noch nicht wieder seinen Höchststand erreicht, in dem Mini-Hafen zu manövrieren, ist deshalb gar nicht so einfach.

Unter Deck sitzen alle zusammen an zwei Tischen. Nach draußen gucken bringt nicht viel bei der Dunkelheit. Und der Wind ist noch kräftiger geworden, das Schiff schaukelt ganz schön - kabbelige See.

Matthiesen erzählt von den nächsten Touren, die sie schon geplant hat: Nach Weihnachten soll es noch zweimal durchs Watt nach Oland gehen. Dann zwar ohne Andacht, dafür aber mit Grünkohlessen. Und die Adventstour im nächsten Jahr steht praktisch auch schon fest.