Digitale Verunsicherung Von Menschen, die nach unten schauen

Schau mir in die Augen, Kleines!“ Mitnichten. Doch der gesenkte Blick ins Smartphone ist keinesfalls ein Zeichen kollektiver Niedergeschlagenheit. Im Gegenteil. Das Mobilgerät ist vielmehr eine digitale Aussichtsplattform, die uns — geben wir es ruhig zu — oft attraktivere, interessantere und abwechslungsreichere Sehenswürdigkeiten zeigt, als die analoge Welt um uns herum.

Foto: Sergej Lepke

Ob nun in vollbesetzter Straßenbahn regennasse Mitfahrer vor sich hin tropfen oder hochsommerlich schweißtriefend vor sich hin dünsten:

Glücklich, wer sich im Gedränge in ein wackeliges YouTube-Video flüchten kann. Man verpasst aktuell ohnehin nichts, denn der spontane Bahn-Flirt ist auch nicht mehr als ein Mythos des Nahverkehrs.

Nicht anders am häuslichen Esstisch: Austausch in familiärer Runde? Überschätzt. Warum sich beim Abendessen Vorwürfen und Erwartungen der Eltern stellen, die mit ihren Gedanken doch bei ihren eigenen Berufs- und Alltagssorgen sind. Dann lieber unter dem Tisch ein tiefgründiger Chat mit den Freunden: „Ey, was geht?“ „Nix. Abendessen.“ „Yo, ich auch. :-(“

Wenn im Hier und Jetzt mal „nix geht“, digital geht immer was — und wenn es nur darum geht, der Welt zu sagen, dass bei mir gerade „nix geht“. Statt sich von der unmittelbaren Umgebung mit ihrer Normalität in Endlosschleife quälen zu lassen, kann man heute einfach entfliehen. Raus aus den stupiden Reiz-Wiederholungen des Wegs zu Schule, zur Uni, zur Arbeit und den Pausengesprächen über Wochenendwetter und Preissteigerung. Wir senken dankbar den Blick aufs Display und machen uns auf in die digitale Welt. Was jetzt geht oder nicht entscheiden wir selber. Mit unserer Kreativität, unserer Fantasie, unseren Emotionen bereichern wir die Welt auf beiden Seiten des Bildschirms.

Vielleicht genauso, wie wenn wir durchs Straßenbahnfenster einen Wartenden an der Haltestelle anlächeln. Aber das ist nur so ein Gedanke, der mir gerade kommt, als ich kurz von meinem Handy aufschaue.