Christoph Biermann: Ich flippe nicht mehr aus
Krefeld. Deutschlands bester Fußballautor Christoph Biermann spricht im Interview mit der WZ über Emotionen, die WM und Robert Enke.
Der Autor liest am Donnerstag in der Krefelder Kulturfabrik.
Christoph Biermann: Weil die Winterpause so kurz war, hatten die meisten Mannschaften keine großen Anlaufschwierigkeiten. Die Bayern etwa machen genau dort weiter, wo sie am Ende der Hinrunde aufgehört haben. Das Gleiche gilt für Bayer Leverkusen und Schalke 04, bloß auf unterschiedliche Weise: Die einen spielen aufregend, die anderen arbeiten die Spiele zäh weg. Ganz kompliziert ist die Situation bei Hannover 96: Die Mannschaft leidet noch unter den Folgen des Freitods von Robert Enke, und die sportliche Führung weiß nicht, wie man damit umgehen soll. Für diese Situation gibt es keine Erfahrungswerte, denn noch nie hat sich ein aktiver Profi auf diesem Niveau mitten in der Saison das Leben genommen. Daran ist Trainer Bergmann letztlich gescheitert, der ja jetzt entlassen wurde.
Und die Meisterschaft entscheidet sich zwischen Schalke, Leverkusen und Bayern?
Biermann: Man muss auch Borussia Dortmund im Auge behalten, da ist seit einigen Monaten viel Schwung drin. Dass Schalke Meister wird, halte ich für eher unwahrscheinlich, weil die fußballerische Substanz dort vergleichsweise am geringsten ist. Allerdings gelingt es Mannschaften bekanntlich immer wieder, solche Mängel auszugleichen.
Biermann: Ich mag am liebsten fußballerisch starke Spieler wie Mesut Özil, der nicht umsonst sehr schnell zu einem Hoffnungsträger der Nationalmannschaft geworden ist. Spektakulär finde ich auch, wie sich bei Bayer Leverkusen Toni Kroos entwickelt hat. Außerdem ist Edin Dzeko für mich nach wie vor einer der besten Bundesligaspieler, auch wenn er bislang nicht so gut in Form war.
Sind Sie Fußball-Ästhet?
Biermann: Im Fußball gibt es keine B-Noten, es geht ums Gewinnen. Wenn eine Mannschaft das aber mit fußballerischen Mitteln versucht, freut es mich. Allerdings wäre es unfair, alle Teams an diesem Maßstab zu messen. Ich kann nicht erwarten, dass meine Ansprüche an Fußball-Ästhetik nun gerade von Abstiegskandidaten erfüllt werden. Aber wenn ich die Wahl habe, sehe ich natürlich Teams wie Barcelona oder Arsenal deutlich lieber.
Sie reden und schreiben sehr analytisch. Flippen Sie beim Fußball auch manchmal aus, sei es vor Begeisterung oder Wut?
Biermann: Nein, nicht mehr. Ich habe aus meiner Sympathie für den VfL Bochum zwar nie einen Hehl gemacht, aber weder flippe ich aus, wenn die verlieren, noch laufe ich bei einem Sieg im Jubelrausch durch die Gegend. Ich kann aber gut verstehen, wenn andere das tun und sagen: "Ich will einfach das Spiel sehen und mich freuen, wenn meine Mannschaft gewinnt. Und ich will mit ihr trauern, wenn sie verliert. Warum das so gekommen, interessiert mich nicht." Bei mir ist das anders: Ich möchte gerne verstehen, warum auf dem Rasen etwas so passiert, wie es passiert ist. Außerdem glaube ich, dass es für viele meiner Leser so richtig ist: Ihre Emotionen haben sie ja selber, da brauchen sie nicht auch noch meine.
Wünschen Sie sich trotzdem manchmal die Unschuld eines Fans zurück?
Biermann: Ich jammere meiner verlorenen Naivität nicht hinterher. Das Schöne am Fußball ist doch: Das Spiel ist so einfach und trotzdem wahnsinnig kompliziert. Es hängt von der individuellen Qualität der Spieler ab, von Kraft und Kondition und taktischen Überlegungen. Jeder Trainer kann an unglaublich vielen Stellschrauben drehen, das ist auch der Grund, weshalb ich "Die Fußball-Matrix" geschrieben habe. Das Buch soll zeigen, wie großräumig und verschachtelt dieses System Fußball ist. Ich empfinde es als Zugewinn von Vergnügen, mich intensiv damit zu befassen.
Aber Emotionalität lässt sich beim Fußball dennoch nicht abschalten.
Biermann: Natürlich nicht. Beim Spiel zwischen Köln und Dortmund am Sonntag war ich einer der wenigen im Stadion, die neutral und daher nicht emotional beteiligt waren - trotzdem reißt mich so ein dramatisches Finale mit. So etwas macht auch für mich die Faszination des Spiels aus, aber die nächste Frage ist gleich: Wie konnte es dazu kommen?
Wie weit lässt sich Fußball überhaupt mathematisch und statistisch aufschlüsseln? Oder anders gefragt: Wie groß ist der graue Bereich, an den man nie rankommen wird?
Biermann: Die Frage muss man umdrehen. Was wissen wir bislang über Fußball und wie kann uns dieses Wissen helfen? Nehmen wir beispielsweise die umfangreichen Spielstatistiken zu einzelnen Spielern: Die helfen schon heute, sich ein adäquates Bild von ihrer Leistung zu machen - fernab der Emotionen am Spielfeldrand. Dadurch wird das Urteil klarer und weniger subjektiv.
Was diese Analyse betrifft: Wie viel Nachholbedarf hat da der Sportjournalismus?
Biermann: Na ja, wenn ich im Stadion sitze und in Windeseile einen Spielbericht abzuliefern habe, kann ich keine tiefgehenden Analysen erstellen. Dennoch gibt es bei vielen Lesern ein Bedürfnis, sich Dinge erklären zu lassen. Besonders das Fernsehen tut in dieser Hinsicht noch viel zu wenig.
Mancher wittert da die Gefahr, den Fußball zu sehr zur Wissenschaft zu erklären und ihm so sein Geheimnis zu rauben.
Biermann: Keine Angst, diese Gefahr besteht nicht. Fußballspieler sind und bleiben Menschen. Sie werden auch in Zukunft nicht zu Maschinen oder zu lebenden Avataren eines Videospiels. Wir werden allerdings in den nächsten Jahren noch viel über Fußball lernen, ohne jedoch irgendeine Formel für das Geschehen auf dem Platz finden. Am Ende bleibt immer das menschliche Rätsel übrig.
Wo sind Sie am 11. Juni dieses Jahres?
Biermann: Ich denke mal beim Eröffnungsspiel der WM.
Und welches Kapitel der "Fußball-Matrix" sollte Jogi Löw vorher noch mal genau lesen?
Biermann: Ich verstehe mich nicht als Ratgeber, der Fußballtrainern sagt, wo es langgehen soll. Ich schreibe nicht mit der Geste "Das müsst ihr machen!", sondern "Guckt mal, was es alles gibt!".
Wer wird denn am Ende Weltmeister?
Biermann: Brasilien. Das ist eine interessante Mannschaft, weil sie gleichzeitig so viele großartige Spieler versammelt, aber mit Carlos Dunga einen staubtrockenen Trainer hat. Ich habe das Gefühl, die sind derzeit so unglamourös, dass sie es mal wieder werden könnten.