Jahre von der Stasi schikaniert

Veronika Mehlis und ihre Familie gehörten zu den letzten Ausreisewilligen, die am 17. Juni 1989 die DDR verlassen durften.

Foto: abi

Krefeld. Als die Räder der Waggons plötzlich nicht mehr über die Schienen rumpeln, sondern leise über die Gleise gleiten, steht für die Menschen im überfüllten Zug fest: „Wir haben die Grenze passiert, wir sind im Westen.“ Veronika Mehlis ist auch dabei und stimmt mit ihrer Familie in den Jubel ein. Am 17. Juni 1989 gehört sie zu den DDR-Bürgern, die mit dem überhaupt letzten Transport von Ausreisewilligen in die Bundesrepublik kommen.

Foto: Bischof, Andreas (abi)

Noch heute laufen der Krefelderin beim Erzählen dieses Moments die Freudentränen über die Wangen. Sie hat Gänsehaut. „Vor der Ausreise lagen lange Jahre der Schikanen und Demütigungen durch die Stasi“, berichtet die heute 53-Jährige.

Der Unmut der Familie über das Regime steigerte sich nach dem Hausbau. „Wir haben in Delitzsch bei Leipzig ein Drei-Familienhaus errichtet, die Oma und Schwiegermutter zu uns genommen“, erzählt Mehlis. „Es gab kaum eine größere Strafe, als Hausbesitzer in der DDR zu sein. Es war kaum Baumaterial vorhanden, und als wir fertig waren, hieß es plötzlich, wir hätten zu groß gebaut und müssten eine weitere Person aufnehmen: einen völlig fremden Mann mit Zugang zu Bad und Küche für 15 Alu-Chips im Monat.“ Veronika Mehlis lacht heute über die Bezeichnung für die Ost-Mark und fügt an: „Kaffee nannten wir Erichs Krönung.“

Ein anderer Fall: Tochter Daniela litt an einer Bronchitis. Beim Besuch des Kinderarztes hatte der Mediziner eine Zigarre im Mund und die Füße auf dem Tisch. Er sagte: „Jetzt geben wir ihr eine Spritze, damit sie Grund zum Schreien hat.“ Da stand der Entschluss Ende 1986 fest: „Wir stellen einen Ausreiseantrag.“ Damit begannen die Schikanen und eine lange Leidenszeit.

Am nächsten Tag hatte das Ehepaar keine Arbeit mehr, die Konten waren gesperrt und die Personalausweise eingezogen. Dafür hörten sie vom „Richter des Genehmigungswesens“, wie sie sich zu verhalten hätten. „Sie zeigten mir außerdem Liebesbriefe, die mein Mann Reiner angeblich einer anderen Frau geschickt haben sollte. Ihm wurden dunkle Bilder vorgelegt, die mich mit einem anderen Mann im Bett zeigen sollten.“ Doch sie und ihr inzwischen verstorbener Mann hätten zusammengehalten wie Pech und Schwefel: „Wir haben die Lügen nicht geglaubt.“

Als sich Veronika Mehlis wehrte, hieß es: „Noch sind Sie Bürgerin der DDR, es kann viel passieren.“ Mehlis erinnert sich: „Freunde halfen uns, die Rechnungen zu bezahlen, sonst hätten sie uns die Tochter weggenommen.“ Im Juni 1989 bekamen sie keine Post mehr, keine Anrufe. Das Paar wollte die Ausreise forcieren und konsultierte einen Anwalt, der als Erich Honeckers Freund galt. „Der fragte gleich, ob wir Antiquitäten oder ein Seegrundstück hätten. Da wir diese nicht besaßen, hörten wir nichts mehr von ihm.“

Immer wieder hörten sie von Nachbarn, die ausreisen durften, ihrem Antrag aber wurde nicht stattgegeben. Dann stand plötzlich die Stasi mit einem Befehl vor der Tür. „Wir mussten handschriftlich und in sechsfacher Ausführung eine Inventarliste über jeden Gegenstand in unserem Haushalt anfertigen. Vom Hygieneartikel bis zum Wohnzimmerschrank. Wir haben das gemacht, wir durften nichts mitnehmen.“

Dann war der große Tag da. „Am 16. Juni 1989 wurde uns die Urkunde für die ,Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR‘ in die Hand gedrückt. Wir mussten eine Schuldenfreiheits-Erklärung abgeben und die Fahrkarten am Bahnhof abholen.“ Dort sei es am nächsten Tag totenstill gewesen, obwohl der Zug proppenvoll war. „Alle hatten Angst.“ Es war glühend heiß. Die Tochter umklammerte ein kleines rotes Köfferchen. Sonst durften sie nichts mitnehmen. Polizisten mit Schäferhunden patrouillierten am Zug entlang, kontrollierten ihn mit Spiegeln von unten, um zu sehen, ob sich niemand versteckt hatte. Dann wurden die Türen verriegelt. „Aber der Zug blieb stehen, die Befürchtung, doch nicht ausreisen zu können, war riesengroß. Doch dann setzte er sich in Bewegung.

Zwei Äußerungen werden Veronika Mehlis von diesem denkwürdigen Tag auf ewig im Gedächtnis bleiben. Ein DDR-Zöllner sagte freundlich und verständnisvoll zum Abschied: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie das erreichen, was Sie sich vorgenommen haben.“ Und auf bundesdeutscher Seite flog ein Heißluftballon durch die Luft. Er trug die Aufschrift: „Herzlich willkommen am 17. Juni, Ihr habt es geschafft.“