90 Jahre Winterspiele: Vom Stiefkind zum Boom
Sotschi (dpa) - 90 Jahre Geschichte Olympischer Winterspiele - das ist zwischen Chamonix 1924 und Sotschi 2014 die Entwicklung von einem ungeliebten Stiefkind hin zu einem Boomunternehmen. Es gibt gewichtige Gründe dafür, dass das IOC nun bremsen muss.
Was für ein Unterschied: Zur Premiere der Winterspiele 1924 trafen sich im französischen Chamonix 258 Wettkämpfer aus 16 Ländern, um in 16 Disziplinen ihre Besten zu ermitteln. Es berichteten 88 Journalisten aus 14 Ländern. 90 Jahre später präsentiert das Internationale Olympische Komitee (IOC) in Sotschi bei der 22. Winter-Ausgabe seiner Spiele ein boomendes Hochglanzprodukt mit Rekordzahlen. In ihren Maßen sind die Winterspiele ihrem großen Bruder Sommerspielen immer näher gerückt. Als zweite Geldmaschine des IOC produzieren sie mittlerweile etwa 40 Prozent der olympischen Vier-Jahres-Umsätze, und die lagen mit den Spielen in Vancouver 2010 und London 2012 bei 8,05 Milliarden Dollar (5,88 Milliarden Euro).
Den Berg auf Brettern herunterzurutschen sei „kein Sport“, alpines Skilaufen „kommerziell verseucht“, und die Eiskunstläufer hätten sowieso nur Revuen im Kopf. So und ähnlich hat Avery Brundage in seiner Zeit als IOC-Präsident (von 1952 bis 1972) gewettert, und das ganz im Sinne des Olympia-Gründers Pierre de Coubertin. Weil es der Amerikaner wie der Franzose nicht schaffte, Winterspiele zu verhindern, setzte er in seinem letzten Amtsjahr ein Zeichen: Ausschluss des österreichischen Ski-Helden Karl Schranz von den Spielen in Sapporo wegen Verstoßes gegen das Amateurstatut.
In den 42 Jahren danach sind die Winterspiele zu einem Tempodrom mit zirzensischen Schauteilen geworden, zu einem Tummelplatz auch von Sportler-Millionären, zu einem begehrten Objekt der globalen Unterhaltungsindustrie. Sie tritt gegenüber dem IOC als Forderer und Förderer auf. Sotschi wird den Einnahme-Rekord der letzten Spiele in Vancouver von 1,28 Milliarden Dollar für die weltweiten Fernsehrechte voraussichtlich nicht übertreffen. Gewiss aber das nächste Olympia-Spektakel 2018 im südkoreanischen Pyoengchang. Für das hat das IOC bereits 963 Millionen Dollar als Garantie des TV-Giganten NBC allein für die USA-Rechte sicher. Und wie begehrt die heiße Ware auf Eis und Schnee nach wie vor ist, zeigt die Bewerbung von sechs Ländern um die Ausrichtung der 24. Winterspiele 2022.
Schöpfer des olympischen Wintersport-Booms ist Juan Antonio Samaranch. Getrieben vom mächtigen amerikanischen Kommerz-TV, weitete der IOC-Präsident die Winterspiele von zwölf auf 17 Tage und damit auf die Größe von Sommerspielen aus. 1986 setzte der Spanier durch, dass von 1994 an die Winterspiele aus dem olympischen Vier-Jahres-Rhythmus herausgelöst wurden. Zwei Mal Olympia in einem Jahr, das war dem größten amerikanischen IOC-Sponsor zu aufwendig.
Als willkommene Zusatzware verdoppelte Samaranch die Wettbewerbe in seiner Amtszeit von 38 auf 78. Unter Samaranch-Nachfolger Jacques Rogge kamen noch einmal 20 Wettbewerbe hinzu, vor allem spektakuläres, halsbrecherisches Treiben im freien Stil auf buckeligen Pisten, Schanzen-Landschaften und Halfpipes - Funsport als besonderes Angebot auch an die Jugend. Und nun also Sotschi mit der Ausweitung um gleich zwölf auf 98 Medaillen-Konkurrenzen.
Geht künftig noch mehr, oder wird das IOC dem bisher schier ungebremsten Wachstum nun Grenzen setzen, wie er es bei den Sommerspielen versucht? Es gibt reichlich Gründe für den neuen IOC-Präsidenten Thomas Bach, abzubremsen: Die zunehmende Welterwärmung zusammen mit der Umweltbelastung, die enorm gestiegenen Kosten für Ausrichter und wachsende Widerstände in der Bevölkerung - nach dem schweizerischen Graubünden und München hatte zuletzt auch Stockholm die Bemühungen zur Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2022 aufgegeben.