Sportgericht CAS „Staatsfeind“ Rodschenkow lebt gefährlich
Genf (dpa) - Der Mann mit der Brille muss sich nun schon seit zwei Jahren verstecken. Der Russe tauchte in Amerika unter, er bangt um sein Leben. Nicht einmal seine Familie weiß, wo er sich heute aufhält.
Keiner darf sein Gesicht sehen. Aber seine Stimme dürfte in dieser Woche wieder zu hören sein.
Wenn Grigori Rodschenkow vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) in Genf aussagt, dann nur per Telefon oder Video. „Sollte er per Video zugeschaltet sein, dann würde sein Gesicht unkenntlich gemacht werden. Niemand darf wissen, wie er aussieht“, sagte Rodschenkows New Yorker Anwalt Jim Walden in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Die Anhörungen von zunächst 39 russischen Athleten, die vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) lebenslang von Olympia ausgeschlossen wurden, begannen am Montag. Vor allem in Moskau dürfte man wieder gespannt, nervös und besorgt sein, wenn der 59-Jährige aussagt. Denn der ehemalige Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, das seinen Namen nicht verdiente, will die CAS-Richter von der Schuld der russischen Wintersportler überzeugen.
„Er weiß, dass die Zukunft vieler sauberer Athleten auf der Kippe steht, denn ohne seine Aussage würden die Olympia-Sperren für russische Athleten sicherlich rückgängig gemacht werden“, sagte Walden vor dem Verhandlungsmarathon im Genfer Kongresszentrum.
Früher Täter - jetzt Opfer? Aufklärer oder Verräter? Fakt ist: Rodschenkow war und ist als Kronzeuge die zentrale Figur bei den schwierigen Ermittlungen im russischen Dopingskandal. Seine Aussagen waren Basis und Kern des Reports von Sonderermittler Richard McLaren, der das Manipulationssystem umfassend dokumentierte. Damit dürfte Rodschenkow zum „Staatsfeind Nummer 1 in seinem Heimatland“ werden, hatte die „Mail on Sunday“ im Vorjahr kommentiert.
„Er ist sich darüber im Klaren, dass er weit oben - vielleicht sogar an der Spitze - der russischen Todesliste geführt wird“, meinte Anwalt Walden. Rodschenkow sei bewusst, „dass er den Rest seiner Tage mit einem offenen Auge schlafen müssen wird“.
Seine Familie habe „nicht die geringste Ahnung“, wo der Vater abgetaucht ist. „Seine Frau weiß nicht, wo er sich befindet, und ich weiß es auch nicht“, meinte Walden und nannte den Grund: „Sollte seinen Angehörigen oder anderen Bekannten etwas zustoßen, dann wäre keiner in der Lage, die Position von Doktor Rodschenkow zu verraten.“
Der promovierte Chemiker hatte sich im Januar 2016 praktisch über Nacht nach Los Angeles abgesetzt, weil er sich in Russland nicht mehr sicher fühlte. Neun Jahre, von 2006 bis 2015, leitete Rodschenkow das Moskauer Doping-Labor. Als die Welt-Doping-Agentur WADA Russland im November 2015 vorwarf, mehr als 1400 Proben vernichtet zu haben, musste Rodschenkow seinen Posten als Laborleiter räumen.
Doch seine späteren Geständnisse und Enthüllungen waren zugleich ein Schuldgeständnis. Denn Rodschenkow hat nach eigenem Bekenntnis ein verdecktes Programm zur verbotenen Leistungssteigerung bei russischen Sportlern gesteuert. Jahrelang experimentierte er mit Dopingsubstanzen. Davon profitierten auch zahlreiche russische Sportler, die bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi 33 Medaillen gewannen - keine Nation war erfolgreicher.
In seiner Jugend war der am 24. Oktober 1958 in Moskau geborene Rodschenkow Leichtathlet. Nach dem Chemiestudium begann er 1985 im Moskauer „Anti-Doping-Zentrum“ zu arbeiten. Er wechselte später zu privaten Computer- und Energiefirmen, kehrte aber 2006 zurück.