Wundertüte Rio
Rio de Janeiro (dpa) - Morgens um 6.30 Uhr entfaltet diese wunderbare Stadt ihren größten Reiz. Wie meinte schon der große Architekt Oscar Niemeyer: „Geraden sind langweilig“.
Hier an der Copacabana in Rio de Janeiro hatte er sein Büro, wo die Natur in einer guten Laune eine wunderbare Kurve und geschwungene Hügel in die Bucht gezaubert hat. Jeder Morgen ist anders, mal der Himmel feuerrot, mal ein blau-weißer Wolkenteppich, der wie ein Gemälde wirkt. Dazu das Meeresrauschen.
Doch es ist etwas anders dieser Tage, wenn zum Sonnenaufgang noch alles eigentlich still ist, ein paar Jogger unterwegs sind oder Touristen fasziniert im Sand sitzen, die Augen schließen und die Sonne anbeten. Wie vom Himmel gefallen steht mitten auf dem breiten Sandstrand ein großer blauer Kasten. Darin zwölf große Räume mit Panoramafenstern - TV-Studios mit bestem Blick auf Meer, Bucht und Zuckerhut. Und einen Kilometer weiter viel Lärm schon frühmorgens.
Hier hängen Dutzende Arbeiter an dünnen Stahlkonstruktionen, sie bauen das Stadion, das einen der stimmungsvollsten Wettbewerbe in malerischer Kulisse beherbergen wird: Die temporäre Arena für Beachvolleyball. Einsam im Sand sammelt im orangenen Arbeitsdress Junior Neto den Müll ein. „Die Spiele sind eine große Chance für Rio, damit mehr Touristen kommen“, meint er. „Aber ich sorge mich um die Sicherheit, es ist gefährlich hier.“ Was ihn besonders interessiert? Der Marathon. 1800 Reais (485 Euro) verdient er im Monat, aber wegen der schweren Finanzkrise flossen die Gehälter zuletzt oft verzögert.
Rio und Olympia: es ist wie eine Wundertüte. Brasilien droht aus den Top Ten der führenden Wirtschaftsnationen herauszufallen, gebeutelt von einer der tiefsten Rezessionen seiner Geschichte. Als man den Zuschlag bekam, galt Brasilien noch als das Boomland der Zukunft. Die Präsidentin Dilma Rousseff ist im Mai suspendiert worden, die Nachfolgeregierung von Interimspräsident Michel Temer hat unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen schon drei Minister verloren.
In der Olympiastadt gibt es an Universitäten und Krankenhäusern wegen fehlender Gelder Streiks, der Bundesstaat Rio de Janeiro leidet stark unter gesunkenen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft. Eine Finanzspritze der Regierung von über 750 Millionen Euro soll die Lage entschärfen - die Polizei drohte, ohne neue Finanzhilfen nicht für die Sicherheit garantieren zu können. Einige fürchten Proteste gegen das Spektakel, das immerhin rund zehn Milliarden Euro kosten wird, wobei aber über die Hälfte privat finanziert wird. „Ich glaube eher, die Menschen werden feiern, sich ablenken von der Krise, vielleicht ein wenig wie Karneval“, meint Junior Neto von der Stadtreinigungsfirma Comlurb.
So ähnlich sieht das auch Willians Aruajo (37), der seit 20 Jahren sein Geld mit dem Bauen von Sandburgen verdient. Er hat ein imposantes Werk geschaffen, auch die Olympiaringe sind integriert und ein paar spärlich bekleidete Frauen, gekrönt wird es vom Cristo.
„Ich glaube, dass die Spiele gerade jetzt gut für uns sind“, meint er. An normalen Tagen verdient er mit den Almosen für Touristenfotos mit seinem Sandkunstwerk im Hintergrund rund 20 Euro am Tag, in den nächsten Wochen dürfte es deutlich mehr werden. Der umtriebige Bürgermeister Eduardo Paes sieht immer Barcelona 1992 als Vorbild, schöne, heitere Spiele, die danach einen Touristenboom auslösten.
Viele Bewohner glauben fest, dass es ein Fest wird - auch vor der Fußball-WM 2014 gab es viele Negativschlagzeilen, doch als es losging, war das meiste „tudo bem“, gut und fröhlich. Rios Sportstätten sind so weit alle fertig, es wird Transportprobleme geben, aber die Stadt ist für ihre Improvisationskunst bekannt.
Und will nicht auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach den für den Gigantismus kritisierten Spielen von Sotschi zeigen, dass Olympia auch mit etwas weniger Komfort und ohne dutzende neue Stadien geht, die hinterher aber niemand mehr braucht. So ist vieles in Rio der Janeiro temporär, eine Arena wird nach Olympia zur Schule umgebaut. Allerdings ist weiterhin unsicher, ob bis zum Start im August wirklich die neue Metrolinie in den Stadtteil Barra, wo sich die meisten Wettkampfstätten befinden, fertig wird. Noch fehlt fast ein Kilometer, es ist mit über 2,5 Milliarden Euro das größte Projekt der Spiele. Ohne die Metro drohen chaotische Anreisen mit Bussen.
Enttäuscht ist man in Rio etwas über einige Absagen von Sportlern wegen der Sorge vor Zika. Zum einen ist das Virus in Rio längst nicht so verbreitet wie im Nordosten, zum anderen sind die Infektionszahlen wegen der geringeren Aktivität der Zika übertragenden Moskitos zuletzt nach Regierungsangaben um fast 90 Prozent zurückgegangen.
Hauptsorge ist für viele die Sicherheit: Überfälle auf Teilnehmer wie Spaniens Segel-Olympiasieger Fernando Echevarri sorgten für schlechte Presse. Hinzu kommt nach islamistischen Terroranschlägen in Europa eine erhöhte Gefährdungsstufe auch in Brasilien. Aber die Regierung mobilisiert 85 000 Sicherheitskräfte, die Strandviertel werden mit hunderten Kameras, Drohnen und Hubschraubern überwacht. „Wir sind absolut entspannt mit Blick auf die Sicherheit während der Spiele“, betont der Sicherheitsbeauftragte Andrei Rodrigues. Man habe das schon bei anderen Großereignissen unter Beweis gestellt, zudem arbeite man während der Spiele mit Sicherheitskräften aus 55 Ländern zusammen.
Es wird sicher nicht alles perfekt werden, Rio wird ein Olympia der Bilder und Stimmungen. Und vielleicht ein Aufbruch der Hoffnung für Brasilien. Aber nicht nur das, schon bei der Eröffnungsfeier im legendären Maracanã wird ein politisches Signal in unruhigen Zeiten gesetzt. Es wird erstmals ein Flüchtlingsteam geben, unter anderem ist die in Berlin lebende syrische Schwimmerin Yusra Mardini dabei.
Das Team wird unter der olympischen Flagge starten und vor Gastgeber Brasilien einmarschieren. „Das Team kann ein Symbol der Hoffnung für alle Flüchtlinge werden“, glaubt IOC-Präsident Thomas Bach.