Ein Erbe Schmelings? Box-Weltmeister Charr in ungewohnter Vorbildrolle

Oberhausen (dpa) - Deutschland hat nach 85 Jahren wieder einen Boxweltmeister im Schwergewicht. Manuel Charr heißt er, ist 33 Jahre alt, lebt in Köln. Der 1,92-Meter-Mann besiegte den Russen Alexander Ustinow einstimmig nach Punkten und sicherte sich den Titel der WBA.

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So weit das Protokoll.

Der Sieg in dem spannenden Duell ist korrekt. „Deutschland, wir sind Weltmeister“, rief der im Libanon geborene Charr vor 5000 Zuschauern in der König-Pilsener-Arena in Oberhausen überglücklich. „Diesen Titel widme ich Deutschland.“ Letzter deutscher Champion in der Liste der schwergewichtigen Berufsboxer war Max Schmeling, der von 1930 bis 1932 den Titel aller Klassen besaß. Und da beginnt das Problem.

Ein richtiger Nachfolger Schmelings, eines der größten Heroen in der Geschichte des deutschen Sports, ist Charr natürlich nicht. Ein Vergleich verbietet sich geradezu, den Leistungsstand von Schmeling hat er bei weitem noch nicht erreicht. Zudem war das Niveau in dem Duell nicht WM-würdig. Vor allem der 2,02 Meter große Riese Ustinow war allenfalls Mittelklasse und hätte nie um den WM-Gürtel kämpfen dürfen. Aber Charr hat an diesem Abend etwas Anderes, Großartiges geschafft.

Der einst vor dem Bürgerkrieg in seinem Geburtsland geflüchtete Sohn eines Syrers, der in seiner neuen Heimat Deutschland mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geriet, in Untersuchungshaft saß und vor Gericht musste, der vor zwei Jahren durch einen Bauchschuss in einem Döner-Imbiss in Essen lebensgefährlich verletzt wurde und vor dem Karriereende stand, der sich einer doppelten Hüftoperation unterziehen musste und dem damit erneut das sportliche Aus drohte, der Mann hat sich aufgerappelt und hat sich einen Traum erfüllt. „Ich habe mich durchgebissen“, sagte er.

„Das macht ihn aus. Er hat den Menschen gezeigt: Auch wenn ihr am Boden liegt, ihr könnt wieder aufstehen, ihr könnt eure Probleme überwinden, ihr könnt schaffen, woran ihr vielleicht selbst gar nicht glaubt. In dem Punkt ist er ein Vorbild“, sagte Trainer Ulli Wegner, der als Co-Kommentator von Sky am Ring saß. Das Kampfniveau wollte der Sauerland-Coach, der Charr vor vielen Jahren betreut hatte, nicht bewerten. „Ich bin zu sehr mit Manuel verbunden, gebe ihm immer wieder Tipps am Telefon. Nur soviel: Der Russe hatte nichts drauf.“ Was der Verband WBA für einen Unfug mit Titelkämpfen betreibt, ist ohnehin reif für das Guinnessbuch der Absurditäten.

Dass Charr vor knapp sieben Monaten zwei Hüftprothesen eingesetzt wurden und er nach achtwöchigem Training im Ring stand, ist ein medizinisches Wunder. Normalerweise braucht der Mensch ein Jahr, bis er sich nach einer solchen Operation halbwegs normal bewegen kann, sagen die Spezialisten. „Manchmal habe ich geweint vor Schmerzen“, berichtete der Champion und rief ins Publikum: „Glaubt an euch. Arbeitet an euren Zielen. Seid hartnäckig. Nichts ist unmöglich!“

Charr hatte die behandelnden Ärzte zum Kampf eingeladen, holte sie bei der nächtlichen Pressekonferenz auf die Bühne und herzte sie. Dass macht den einst ins Kriminelle abgedrifteten Charr sympathisch. Er feiert nicht sich selbst, sondern sein Team. „Es ist genial. Was wir geschafft haben, wird in die Geschichte eingehen“, meinte Charrs Manager Christian Jäger.

Noch ist Charr in den Herzen der deutschen Boxfans nicht angekommen. Das Publikum in der Halle war hauptsächlich arabisch geprägt. Es wurden libanesische und syrische Nationalflaggen geschwenkt, es klang immer wieder Charrs Geburtsname Mahmoud durch das Oval. Charr, der seit anderthalb Jahren den deutschen Pass besitzt, wie er versichert, hat aber die Chance, in der Publikumsgunst aufzuholen.

Bei der nächsten, größeren Bewährungsprobe muss er sein Leistungsvermögen beweisen. Gegen große Rivalen (Vitali Klitschko, Alexander Powetkin, Mairis Briedis) hat er grundsätzlich verloren. Zur Einordnung seines Titels: Über ihm thront der sogenannte WBA-Superchampion Anthony Joshua. Irgendwann wird der Deutsche gegen den Klitschko-Bezwinger antreten müssen. Charr: „Das ist mein Ziel. Ich will immer nur die Besten.“