Frank Wormuth: „Sägen wir nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen!“
Frank Wormuth, Chef-Trainerausbilder des DFB, beantwortet drängende WM-Fragen
Nach dem 2:1 gegen Algerien war die Kritik in den Medien und bei einigen Fans sehr hart. War das gerechtfertigt? Oder lag das am Gegner, der trotz nachgewiesener Klasse von vielen immer noch als „kleine“ Fußball-Nation gesehen wird?
Diese Unruhe beruht auf einer extremen Erwartungshaltung, die sich im Motto „Wir Deutsche sind bereit für den Titel — wenn da nicht die Nationalmannschaft wäre“ niederschlägt. Die Angst auszuscheiden führt zu mangelndem Vertrauen — und leider oft zu aggressivem Verhalten gegenüber unseren Vertretern. Wir müssen uns alle neu booten. Ich bekomme es hier in Brasilien ja hautnah mit: Die anderen Nationen ziehen den Hut vor uns, dass wir gegen ein starkes Algerien weitergekommen sind. Man muss als Deutscher erst ins Ausland gehen, um festzustellen, wie man uns respektiert.
Wenn man das Spiel auf der Sachebene analysiert, dann hatten wir in der Tat in der ersten Hälfte mit den Kontern der Algerier große Probleme. Das lag daran, dass die Spieler permanent versucht haben, den Gegner unter Druck zu setzen. Sie sind hohes Risiko gegangen. Da öffnen sich eben Räume. Und ohne jemandem nahetreten zu wollen: Wir haben sicherlich nicht die schnellsten Spieler im hinteren Bereich, dafür aber einen mitspielenden Torhüter.
Brasilien hätte schon draußen sein können, die Argentinier ebenso. Also, liebes Deutschland, freuen wir uns, so lange es geht. Und sägen wir nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen.
Haupt-Kritikpunkt war für viele die Position von Philipp Lahm, der nach dem Ausfall von Mustafi zeigte, warum er einer der besten Außenverteidiger der Welt ist. Was spricht dennoch dafür, ihn im Mittelfeld zu belassen?
Philipp Lahm steht doch nicht ohne Grund auf der Mittelfeldposition. Khedira und Schweinsteiger waren lange verletzt, Kroos ist mehr ein Achter als ein Sechser und Kramer erst ein Backup. Gegen Portugal brauchte man auf der Außenverteidigerposition Innenverteidiger, dann wollte man in der erfolgreichen Mannschaft wohl keinen Wechsel mehr machen. Dann beginnt der „Eingespielt-sein-ist-wichtig“-Gedanke beim Trainerteam Wirkung zu zeigen. Vielleicht ändert sich jetzt gegen die Franzosen die Aufstellung, weil sich Khedira und Schweinsteiger ins Turnier gearbeitet haben. Dann wäre Lahm wieder ein Zweier. Aber bei allem Schwärmen für eine Person — er hatte übrigens einen Stellungsfehler beim Gegentreffer — sollten wir doch erkennen, dass einer allein es nicht ausmacht.
Zu Frankreich: Uns erscheint das Spiel der Franzosen vor allem von Benzema abzuhängen und von der Turnier-Entdeckung Pogba. Wie sollte man auf diese zentralen Figuren reagieren?
Es sind zwei gute Spieler, aber es wäre fatal, wenn man den Rest vernachlässigt. Das erinnert mich an meine eigene Profilaufbahn, als einmal ein Trainer mich darauf hingewiesen hatte, dass der Gegenspieler X nie aus der Entfernung aufs Tor schießen werde — „kann der nicht“. Doch der schoss aus 30 Metern in den Winkel, und wir verloren das Spiel. So viel zu Vorgaben. . .
Rückgriff aufs Achtelfinale: Fünf Mal Verlängerung — Zufall oder Beleg für die Ausgeglichenheit?
Auf den ersten Blick natürlich Ausgeglichenheit, aber man muss die Anzahl der vergebenen Chancen beachten. Vielleicht ist es auch mangelnde Qualität in den Abschlüssen oder hervorragende Abwehrarbeit. Auf jeden Fall spannend für die Zuschauer. Deshalb hat diese WM ja auch einen hohen Stellenwert.
Alle staunen über die Zahl der Jokertore und die der späten Treffer? Was kann der Experte daraus ablesen?
Zwei Punkte: Zum einen ist der Leistungsabbau dem sehr hohen Tempo und dem Klima geschuldet, was zur Folge hat, dass neue Spieler diesen Vorteil ausnutzen können. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass gegen Ende jeder das Spiel gewinnen will, taktische Vorgaben vergessen werden — und deshalb wieder Räume vorhanden sind, durch die Chancen entstehen. Diese Kompaktheit ist ein Schlüssel im Spiel, aber am Ende geht es eben nicht mehr so gut. Dann können eher Tore fallen. Der Volksmund spricht ja dann vom „offenen Schlagabtausch“.
Blick aufs Viertelfinale: Können Sie sich vorstellen, dass Brasilien ausscheidet?
Vorstellen kann ich mir alles. Gegen Kolumbien ist die Wahrscheinlichkeit gegeben. Die sind richtig gut gewesen. Am Ende wird es — obwohl ich immer die gesamte Mannschaft sehe — doch Neymar sein, der entscheiden wird oder es eben nicht schafft.