Hamburg unabsteigbar Coach Gisdol nach HSV-Rettung fix und fertig
Hamburg (dpa) - Völlig ausgelaugt rannte Trainer Markus Gisdol nach dem Schlusspfiff in den Kabinentrakt und sprang in voller Montur ins Entmüdungsbecken.
Mittelfeldrenner Lewis Holtby tanzte derweil mit nacktem Oberkörper auf dem Dach der Ersatzspielerbank und dirigierte Tausende johlende Fans, die auf den Platz gestürmt waren. Das Volksparkstadion war nach dem 2:1-Rettungssieg des Hamburger SV gegen den VfL Wolfsburg im Ausnahmezustand. Man hatte den Eindruck, die Hamburger wären nach 34 Jahren wieder deutscher Meister geworden. Dabei war es nur der Klassenverbleib.
Bis in die Morgenstunden feierte die Mannschaft ihren Last-Minute- Erfolg. Außer Rand und Band war der Kiez auf St. Pauli, wohin viele Fans in der Nacht gezogen waren. „Tick Tack, wir gehen euch weiter auf den Sack!“, lautet eine bierselige Twitter-Mitteilung der Mannschaft an die HSV-Hasser.
„Wir sind ausgepresst wie eine Zitrone“, sagte Gisdol erschöpft, aber erleichtert. Wie in der Vorwoche beim 1:1 auf Schalke in Pierre-Michel Lasogga wechselte er diesmal Joker Luca Waldschmidt ein, dem in der 88. Minute - nur 110 Sekunden nach der Einwechslung - der erlösende Treffer gelang. „Ich habe den Ball gesehen und gedacht, der muss rein“, sagte der Stürmer einen Tag nach seinem 21. Geburtstag. Seine Teamkameraden hatten ihm danach gedroht: „Geburtstag und Tor - das wird teuer“.
Gisdol war überwältigt von der Erlösung. Das Formulieren viel ihm schwer. Er sprach mit zittriger Stimme, als würden ihm gleich die Tränen kommen. „Ich bin froh, aber auch leer. Aber schlafen will ich auch nicht“, sagte der 47 Jahre alte Coach, der die Mannschaft im vergangenen September von Bruno Labbadia als abgeschlagenes Schlusslicht übernommen hatte. Aus der Geschäftsstelle an der Sylvesterallee dröhnten Discosongs, aus der Kabine postete Nicolai Müller Jubel-Videos in Unterwäsche. „Glückwuuunsch HSV! Meisterschaft kann ja jeder..“ twitterte Otto Waalkes.
„Heute hat die Mannschaft zusammen mit den Fans ein Wunder geschafft. Davor muss man den Hut ziehen. Das war für uns alle der Höhepunkt der Karriere“, meinte Mergim Mavraj. „Alle haben uns tot geschrieben. Aber wir standen immer unseren Mann.“
Beeindruckt von der Energieleistung war auch Vorstandschef Heribert Bruchhagen: „Ich freue mich, dass wir es in dieser schweren Saison mit höchster Anspannung geschafft haben. In unsere Freude schließe ich auch Dietmar Beiersdorfer ein.“ Sein Vorgänger musste im Winter gehen.
Mit nur zwei Punkten nach zehn Spieltagen hat sich noch keine Mannschaft gerettet. Mit den Fans im Rücken holte der HSV 28 der 38 Punkte zuhause. „Wir haben uns das erfüllt, auch wenn ich gern eine andere Geschichte mit dem HSV schreiben würde“, sagte Gisdol. „Wir sind eine große Familie“, betonte der Fußball-Lehrer, der aber auch streng sein konnte in den vergangenen Monaten. So traute sich der aussortierte Kapitän Johan Djourou am Samstag nicht einmal mehr zum Gratulieren in die Kabine.
Matchwinner Waldschmidt hatte bei seinem Wechsel von Eintracht Frankfurt zum HSV nicht mit der nervlichen Höchstbelastung gerechnet, der das Team seit Monaten widerstehen musste. „So krass nicht. Was wir erlebt haben, die Fans hinter uns, das war überwältigend.“
Waldschmidt wird sicher einer der Jungen sein, auf die die Verantwortlichen demnächst verstärkt setzen wollen. Denn Topgehälter wie für den verletzten Keeper René Adler sollen reduziert, der Etat von 55 Millionen Euro gekürzt werden. Und Gisdol will endlich normale Verhältnisse und stöhnte: „Ich kann nicht noch ein Jahr so machen.“