Kein Leben ohne Fußball: Daum auf seinem Weg zurück

Köln. Wer vom Himmel sinnbildlich mal in die Hölle abgestürzt ist, muss zunächst mal ziemlich viele Stufen erklommen haben. Der Fußballtrainer Christoph Daum zum Beispiel stieg in den Neunzigern mit großen Schritten hinauf, geriet manchmal ins Stolpern, rappelte sich aber wieder auf und kam kurz nach der Jahrtausendwende ganz oben an.

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Er sollte am 1. Juli 2001 die deutsche Nationalmannschaft übernehmen, der höchste Posten im deutschen Fußball, eine Auszeichnung.

Dann aber passiert das Unfassbare. Es kommt heraus, dass Daum Kokain geschnupft hat. Am 21. Oktober 2000 ist Christoph Daum, zu der Zeit noch Trainer von Bayer Leverkusen, am Ende. Abgestürzt. Von ganz weit oben plötzlich wieder ganz weit unten angelangt. Aber er hatte diesmal nicht die Stufen genommen. Daum war im freien Fall, Gejagter statt Begehrter. Er flüchtet in die USA.

Reiner Calmund, damals Bayer-Manager und langjähriger Wegbegleiter Daums, hat lange nach der Affäre mal über seinen ehemaligen Schützling gesagt: „Der Christoph Daum war natürlich aus dem Olymp, Bundesliga-Spitzentrainer und designierter Bundestrainer, abjestürzt in die Hölle.“

Fast 16 Jahre später geht Daum, 62, wieder auf einer Treppe nach oben, es sind die Stufen zum Büro neben seiner Kölner Villa. Er läuft langsam, künstliche Hüfte, und auf dem Weg zu seinem Schreibtisch kommt er an einem Teil seines Lebens vorbei: an den Wänden hängen Leinwände und Fotos von Erfolgen und Misserfolgen seiner Karriere. In einem Glasschrank in der Ecke stehen Trophäen und Medaillen.

Neun verschiedene Vereine hat er in 30 Jahren trainiert und zehn Titel gewonnen. Er hat Clubs wie den 1. FC Köln, VfB Stuttgart oder Bayer Leverkusen aus der sportlichen Versenkung an die Spitze geführt. In Köln haben sie ihn mal „Messias“ genannt, junge Frauen reichten ihm ihre Babys zur Segnung über die Bande, einige Fans hatten auf ein Transparent „Habemus Daum“ geschrieben.

Dennoch werden die meisten bei dem Namen Daum nicht an den Papst, sondern an Kokain denken. Selbst der kleinste Skandal entfaltet im Kopf oft eine stärkere Wirkung als der größte Erfolg. Titel lassen die Fans jubeln, Skandale faszinieren auch über die Grenzen des Sports hinaus. Die Deutschen können ziemlich nachtragend sein.

„Wichtig ist es, zu lernen, Dinge zu akzeptieren“, sagt er heute, mittlerweile in seinem Büro angekommen. „Verschüttete Milch kriegst du auch nicht wieder in die Tüte.“ Es sind auch solche Sprüche, die die Geschichte von Christoph Daum erzählen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben. „Der Unterschied zwischen gut und spitze ist oft nur eine Fußspitze“, hat er mal gesagt. Oder: „Andere erziehen ihre Kinder zweisprachig, ich beidfüßig.“ Das Gute an ihnen ist, dass sie jeder versteht, obwohl sie eigentlich gar keinen Sinn haben.

Er lacht nicht, als er darauf angesprochen wird. Es gibt Kaffee und belegte Brötchen. Daum hört zu, die Augen weit offen, aber meist weder Nicken noch Kopfschütteln. Wer Christoph Daum vor 15 Jahren zuletzt im Fernsehen gesehen hat, wird feststellen, dass sich sein Äußeres kaum verändert hat. Klar, sein Haar ist etwas lichter geworden, aber der Oberlippenbart scheint über die Jahre festgewachsen zu sein, nur seine Farbe hat sich verändert, das Braun ist noch heller geworden. Auch das Nervöse in seinem Blick ist geblieben.

Seit zwei Jahren ist er ohne Trainerjob. Er hält regelmäßig Vorträge vor Unternehmen und unterstützt gemeinnützige Organisationen wie die Deutsche Diabetes-Hilfe. Er interessiert sich auch für Kunst, sein Büro ist voll mit Bildern. An der Wand in seinem Rücken hängt ein goldener Kopf von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Das sei ein Abzug des Porträts von Jörg Immendorff, das Original hänge im Kanzleramt, sagt er. Aber natürlich erfüllt ihn das alles nicht. Er will unbedingt zurück auf die Trainerbank. Daum ist ein Besessener.

Als er im September 1986 die große Bundesliga-Bühne betritt und Cheftrainer beim 1. FC Köln wird, kommt er aus dem Nichts. Keine große Karriere als Spieler, keine berühmten Eltern. Er war kein Jupp Heynckes, der die großen Erfolge bereits als Spieler gefeiert hatte und allein dadurch eine natürliche Ausstrahlung besaß. Auch kein Otto Rehhagel, der schon Ende der Achtziger manchmal altklug daher kam und seine Gegner mit Arroganz abstrafte. Daum war jung, erfrischend, frech und vor allem: unverschämt.

Viele Fans waren begeistert, beim FC Bayern fielen den Protagonisten die Kinnladen runter. Dieser unerfahrene Typ mit damals noch vollem Schnauzbart und buschigem Haar wagte es tatsächlich, die selbst ernannten Herrscher des deutschen Fußballs öffentlich anzuzählen.

„Die Wetterkarte ist interessanter als ein Gespräch mit Jupp Heynckes“, hat er zum Beispiel mal über seinen Münchner Kollegen gesagt. Wieder so ein Spruch. Daum ist der erste Trainer in der Bundesliga-Geschichte, der die Medien als Waffe benutzt und gezielt in Richtung München feuert. „Die Bundesliga schien langweilig zu werden“, sagte die inzwischen verstorbene Trainerlegende Udo Lattek einst. „Und er hat als einziger den Fehdehandschuh aufgegriffen und hat gesagt: „Ich sage Bayern den Kampf an!““

Mit Köln verpasst Daum zwar knapp die Meisterschaft, gewinnt aber Bayern-Manager Uli Hoeneß als Intimfeind. Es ist der Beginn einer im deutschen Fußball einzigartigen Fehde. „Christoph Daum ist ein großer Selbstdarsteller mit einem außergewöhnlichen Hang zum Größenwahn“, findet Hoeneß.

Wenn Daum heute über Hoeneß redet, fällt nicht ein böses Wort. Hoeneß war es, der mit Andeutungen über einen „verschnupften Daum“ damals die Kokain-Affäre losgetreten hatte. Als Christoph Daum ganz oben angekommen war, schubste Hoeneß ihn über die Klippe. Daum sieht das anders. „Uli Hoeneß hatte mit diesem Problem herzlich wenig zu tun“, sagt er über die Sache mit dem Kokain. „Das war ja meine ureigenste Sache.“

Nach der Affäre war es ruhig geworden um Hoeneß und Daum. Nach seiner Rückkehr aus den USA führte Daum seinen 1. FC Köln 2008 zurück in die Bundesliga, Konkurrenz machte er den Bayern aber nicht mehr. Hoeneß muss wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe 2014 ins Gefängnis. Natürlich dachten danach auch viele an Daum. Nach so vielen Jahren waren die beiden Intimfeinde wieder vereint. Nicht räumlich oder sportlich, sondern im moralischen Ruin.

Wie sich Daum gefühlt hat, als er davon hörte, weiß wohl nur er selbst. Er sagt: „Natürlich habe ich Mitgefühl empfunden. Niemand außer mir wird wohl nachempfinden können, was der Uli Hoeneß und seine Familie da durchgemacht haben.“ Dann will er nicht mehr über Skandale und Kokain reden und verlässt plötzlich den Raum, geht die Treppe runter, kommt nach wenigen Minuten wieder hoch.

Er will jetzt über sein Leben sprechen: „Hinfallen ist keine Schande, nur liegenbleiben. Du musst einmal mehr aufstehen, als du hinfällst und vor allen Dingen dann wieder weiterlaufen“, sagt er. Die Sprüche sind also auch nach all den Jahren geblieben, auch wenn sich ihre Klangfarbe geändert hat.

Er steht plötzlich auf und wird lauter. „Dann musst du wieder ins Agieren kommen, ins Handeln!“. Er klatscht dabei leicht in die Hände und reißt die Augen weit auf. Vielleicht ist Daum ja tatsächlich mehr Trainer als Mensch.

Auf seinem Schreibtisch steht eine kleine Fotoserie. Die drei Bilder zeigen Daum mit Arsène Wenger, Alex Ferguson und Carlo Ancelotti. Er hat sich vor wenigen Jahren mal ein wenig in der englischen Premier League umgeschaut und dabei seine drei Kollegen besucht. Die Fotos stehen so auf dem Schreibtisch, dass sie jeder im Raum sehen kann. Jedes Bild, ob Kunst oder Foto, kann eine Wirkung erzielen. Vielleicht sollen diese Aufnahmen zeigen: Ich bin noch lange nicht raus.

„Ein großer Traum ist die Premier League. Wie dort gearbeitet wird, wie professionell es bei den Vereinen zugeht, hat mich sehr beeindruckt“, sagt Daum. Klar könne er sich auch noch mal die Bundesliga vorstellen. Aber Daum ist natürlich nicht dumm. Er weiß, dass „die Chance darauf mit der Zeit nicht größer wird“. Er lächelt dabei sogar leicht. Wahrscheinlich ist er wirklich mit sich im Reinen, wie er selbst sagt.

Als nach fast vier Stunden dann alles erzählt ist, sagt er, dass man ruhig noch etwas bleiben könne. „Fragen Sie ruhig noch weiter, was Sie fragen möchten. Kein Problem.“ Es ist aber nichts mehr offen. Kurze Zeit später geht er wieder die Stufen runter und läuft langsam zu seinem Haus. Als er die Tür öffnet, wird ein Blick in seinen riesigen Garten frei, dort steht ein Fußballtor. Daum wirkt nachdenklich, als er zurück ins Haus geht. Es könnte aber auch Langeweile sein.