Deutsche Nationalmannschaft Keine Lust auf Kompromisse

Antonio Rüdiger galt lange Zeit als Sicherheitsrisiko. Mittlerweile aber ist er ein stabilisierender Faktor des Teams. Dabei hat er seinen Stil nicht umgestellt, wohl aber perfektioniert.

Antonio Rüdiger hat sich in der Nationalmannschaft gefestigt.

Foto: dpa/Christian Charisius

Herzogenaurach Am Freitag war es wieder mal soweit. Antonio Rüdiger kam dem Ruf nach, der ihm vorauseilt. Während des Aufwärmens schoss er den Ball hoch in die Luft, sein mehrfacher Ausruf nach „Vorsicht“ verhallte ungehört und letztlich traf die Kugel Mats Hummels im Gesicht. Der Dortmunder trug keinen Schaden davon, nahm die Entschuldigung an und trainierte anschließend mit der Mannschaft. Wer wollte, konnte aber wieder mal Rüdiger des unkontrollierten Verhaltens auf dem Rasen zichtigen.

Der 28-Jährige agiert kompromisslos auf dem Feld. Weitaus schlimmer als Hummels traf es beispielsweise Kevin de Bruyne, der nach einem Zusammenprall mit Rüdiger im Champions-League-Finale mit einem Nasenbein- und Augenhöhlenbruch ausgewechselt werden musste. Ohne den Regisseur war Manchester City chancenlos gegen den FC Chelsea. Rüdiger hat mit seinem Verein die begehrtestes Trophäe des europäischen Vereinsfußballs gewonnen und war dabei eine der tragenden Säulen.

Vor wenigen Monaten galt das noch als ausgeschlossen, Trainer Frank Lampard sah in dem dem Innenverteidiger allenfalls einen Ergänzungsspieler. Thomas Tuchel aber übernahm im Januar die Mannschaft, setzte auf Rüdiger und gewann auch deswegen die Champions League. Seine Klub-Kollegen Kai Havertz und Timo Werner rühmten Rüdiger daraufhin als einen „Krieger“. Doch der will davon nichts wissen: „Dieses ganze Krieger-Ding – wenn ich ehrlich bin, habe ich so schon immer gespielt.“ Tatsächlich schonte Rüdiger auch schon in seinen Anfangsjahren beim VfB Stuttgart weder sich noch seine Gegenspieler. Immerhin fünf Platzverweise sind für ihn in seiner Profizeit verzeichnet, den letzten aber kassierte er im April 2017 noch im Trikot des AS Rom. In der vergangenen Liga-Saison sah er nur eine Gelbe Karte. Rüdiger hat sein Spiel nicht umgestellt, das Timing in de Zweikämpfen aber massiv verbessert.

Es ist eine Parallele zu seinem großen Vorbild Jerome Boateng. Auch der nietete in jüngeren Jahren manch Gegenspieler erbarmungslos über die Seitenlinie. Der Münchner verkörpert für Rüdiger „immer noch Weltklasse“. Zudem habe er sich auch gemeldet, als es bei Chelsea nicht gut gelaufen sei.

Nun aber ist Rüdiger einer der Gewinner der Saison und geht noch dazu als Stammkraft in die Europameisterschaft. Die vergangene hatte er verpasst, weil er sich wenige Tage vor dem ersten Spiel das Kreuzband riss. Bei der WM in Russland wurden ihm wahlweise Mats Hummels, Jerome Boateng und Niklas Süle vorgezogen. Zusammen mit Matthias Ginter und Hummels soll er am Dienstag den französischen Sturm um Kylian Mbappe stoppen. Einer Aufgabe, die Rüdiger recht gelassen entgegenblickt. „Die Franzosen sind auf dem Papier stärker. Aber: Das ist nur Papier.“ Weisheiten, über die sich künftig auch die neugeborene Tochter freuen darf. Kurz nach dem Triumph in der Champions League wurde Rüdiger zum zweiten Mal Vater. Mehr als eine Stippvisite bei Frau und Kindern war aber nicht möglich, schließlich ging es für ihn bald weiter zur Nationalmannschaft. Dass er für Kompromisse nur in seltenen Fällen begeistern ist, führt er auch auf seine Jugend zurück. „Für mich war Fußball nur ein Weg, um aus der Armut rauszukommen. Ich wollte vor allem meiner Familie und mir selbst ein schöneres Leben geben können“, so der gebürtige Berliner.

Für die französische Offensive bedeutet Rüdigers Einstellung möglicherweise einen schmerzhaften Abend. „Wir müssen eklig sein, nicht immer lieb, lieb, lieb. Wir können nicht schön, schön, schön lösen, sondern müssen auch mal ein Zeichen setzen – früh.“ Der Verteidiger dürfte sich dafür selbst verantwortlich fühlen.