EM Deutschland entdeckt die Offensive-Power - 4:2 gegen Portugal

München · Mit Spaß und Mut hat die deutsche Nationalmannschaft gegen Portugal gewonnen - trotz manch defensiver Wackler.

Deutschlands Robin Gosens (r) bejubelt sein Tor zum 1:4 mit Serge Gnabry.

Foto: dpa/Philipp Guelland

Jetzt ist Deutschland im Turnier - und wie! Mit großem Mut und der von Joachim Löw geforderten Durchschlagskraft ist der EM-Express gerade rechtzeitig richtig ins Rollen gekommen. Angetrieben von den als verkappten Außenstürmern überragenden Robin Gosens und Joshua Kimmich hat die deutsche Nationalmannschaft mit Spaß- und Powerfußball beim 4:2 (2:1) gegen Lieblingsgegner Portugal das erste große Sommerfest in der Münchner Arena gefeiert - trotz manch defensiver Wackler.

Durch den erzwungen Eigentor-Doppelpack von Rúben Dias (35. Minute) und Raphael Guerreiro (39.) sowie die Treffer von Kai Havertz (51.) und dem an allen vier Toren beteiligten Turnierneuling Gosens (60.) ist die Drohkulisse eines frühen Turnier-K.o. und bitteren Endes der Ära von Bundestrainer Löw plötzlich wie weggeblasen.

Trotz der Tor-Premiere von Cristiano Ronaldo (15.) gegen Deutschland und dem Treffer von Diogo Jota (67.) kann die DFB-Elf im letzten Gruppenspiel am Mittwoch mit einem Sieg gegen Ungarn sogar den ersten Platz in der Hammergruppe F noch schaffen. Die befürchtete Rechnerei um Gruppenkonstellationen und den rettenden dritten Rang kann man sich aus eigener Kraft ersparen. Ronaldo hingegen muss nach seiner fünften Niederlage gegen Deutschland mit dem Titelverteidiger wieder zittern.

Im legeren blauen Hemd dirigierte Löw engagiert an der Seitenlinie. Sein Startelfpersonal hatte er trotz der Enttäuschung gegen Frankreich unverändert gelassen. Kimmich begann wieder auf der rechten Außenbahn statt im Zentrum, das erneut von Ilkay Gündogan und Toni Kroos besetzt wurde. Die offensive Dreierkette bildeten Havertz, Serge Gnabry und Thomas Müller, die schon nach gut vier Minuten jubelten - aber nur kurz. Das von Gosens artistisch erzielte, vermeintliche Führungstor zählte wegen einer Abseitsposition von Gnabry nicht.

Dennoch wirkte Löw kurz nach dem Anpfiff zufrieden. Die Abstimmung funktionierte besser als gegen den Weltmeister am Dienstag. Havertz, der mit Müller und Gnabry immer wieder die Positionen tauschte, prüfte den portugiesischen Torwart Rui Patrício (10.), der Schuss von Toni Kroos wurde von Rúben Dias in letzter Not geblockt (12.). Portugal stand mächtig unter Druck - dem offensiv hochklassig besetzten Europameister reichte aber dieser eine Moment.

Nach einer deutschen Ecke schalteten Ronaldo und Co. blitzschnell um und konterten gnadenlos. Das entscheidende Zuspiel auf Diogo Jota konnten die zurückeilenden Matthias Ginter und Kimmich nicht verhindern. Der 24-Jährige vom FC Liverpool legte überlegt auf Ronaldo, der vollendete und seine Freude in den Münchner Himmel schrie. Der Superstar erzielte sein 19. Tor bei Welt- und Europameisterschaften und schloss zu Rekordhalter Miroslav Klose auf.

Schon wieder in Rückstand, das hatte Löw im zweiten EM-Spiel unbedingt vermeiden wollen. „Wir sind auf der Suche nach der goldenen Mitte“, hatte der Bundestrainer kurz vor dem Anpfiff in der ARD über die Risikobereitschaft seiner Spieler gesagt. Seine Taktik war in den vergangenen Tagen in Wohnzimmern, Kneipen und Freibädern wieder einmal hitzig diskutiert worden. „Ich mag das System nicht so gern“, sagte Jürgen Klopp bei Magenta TV. Die DFB-Auswahl tanzte auf dem schmalen Grat zwischen erdrückender Offensive und anfälliger Defensive.

Aber das machte sich gut. Nachdem schon Gosens Rui Patrício zur nächsten Parade gezwungen hatte (18.), verpasste Hummels eine Gnabry-Flanke aus aussichtsreicher Position um Zentimeter (25.). Die Löw-Elf wollte, sie drängte auf den Ausgleich. Das spürten auch die mehreren Tausend Fans auf den Rängen, die innerhalb weniger Minuten zweimal jubeln konnten.

Das erste deutsche Turniertor leitete Kimmich über die viel diskutierte rechte Seite mit einem starken Ball auf Gosens ein, der mit Wucht und dem von Löw geforderten Mut direkt in die Mitte weiterleitete. Dort zwang Havertz Rúben Dias mit gutem Körpereinsatz zum Eigentor, das dem verhängnisvollen von Mats Hummels gegen Frankreich ähnelte.

Die Führung erzwang die DFB-Auswahl durch erneut starkes Nachsetzen. Kimmich spielte den entscheidenden Ball aus kurzer Distanz vor das portugiesische Tor, den der Dortmunder Guerreiro nur noch ins eigene Tor abwehren konnte. Gnabry hätte vor der Pause fast noch erhöht (45.+2). „Was mir gefallen hat, war die Risikobereitschaft“, sagte ARD-Experte Bastian Schweinsteiger in der Halbzeit.

Das dritte Tor für Deutschland nach starker Angriffskombination brachte noch mehr Sicherheit. Gosens wurde auf der linken Seite von den Portugiesen allein gelassen, die wieder gute Hereingabe des Italien-Profis verwertete Havertz zum ersten selbst erzielten Treffer der DFB-Auswahl. Ronaldo antwortete mit einem Freistoß, der aber deutlich über das Tor von DFB-Kapitän Manuel Neuer ging (54.).

Gosens krönte seine Glanzleistung in München per Kopf. Bei der Flanke von Kimmich schien wieder kein Portugiese den 26-Jährigen auf der Rechnung zu haben. Bei seiner Auswechslung kurz darauf wurde Gosens verdient gefeiert, der Nationalspieler verneigte sich sogar kurz, die Fans riefen im Gegenzug lautstark seinen Namen.

Diogo Jota ließ die Portugal-Fans im Stadion nach artistischer Vorlage von Ronaldo zumindest wieder ein bisschen hoffen. Renato Sanches traf gut zehn Minuten vor Schluss aus 25 Metern den Pfosten (78.). Zuvor war der vor der EM angeschlagene Leon Goretzka zu seinem Turnierdebüt gekommen. Er kam für Havertz (73.) und zielte wenig später nur knapp über das Tor (84.).

(dpa)